Albanien: Wenn Frauen als Männer leben

Einem spannenden Thema hat sich die Fotografin Pepa Hristova gewidmet. Sie portraitierte die eingeschworenen Jungfrauen Albaniens. Im stark patriarchalisch geprägten Albanien hatten Frauen nach dem alten Gewohnheitsrecht „Kanun” nur wenig Rechte. Um diesem Leben oder einer arrangierten Hochzeit zu entkommen, können sie allerdings Ehe und sexuellen Beziehungen abschwören und fortan als Mann leben. Doch auch der Tod oder das Fehlen von Söhnen in einer Familie führten dazu, dass Töchter diese Rolle einnehmen mussten. Sie tragen fortan Männerkleidung, benehmen sich wie Männer und werden allgemein als solche angesehen.

Dazu gibt es nun auch einen kurzen Bericht im ARD-Magazin titel thesen temperamente – schnell anschauen, solange der Beitrag noch in der Mediathek verfügbar ist.

Fotografin Pepa Hristova, eine Frau mit dunklen kinnlangen Haaren, spricht in die Kamera, im Vordergrund ein > im Kreis
Screenshot von „titel thesen tempramente” über ostkreuz.de

Obwohl es sich dabei um eine gesellschaftlich akzeptierte, alternative Geschlechtsidentität handelt, sind die traditionellen Geschlechterrollen dadurch nicht in Frage gestellt, sondern vermutlich sogar noch verfestigt. Während die zunehmende Gleichstellung im Zuge des Kommunismus die Tradition langsam aussterben liess, könnte sie nun auch wieder eine Renaissance erleben. Angst, verschleppt und zur Prostitution gezwungen zu werden, spielt dabei eine Rolle, sowie die immer noch begrenzten Möglichkeiten für Frauen, selbstbestimmt zu leben.

(Vielen Dank an Leserin Margarete für den Hinweis.)

17 Kommentare zu „Albanien: Wenn Frauen als Männer leben

  1. Wow.
    Der kurze Bericht hat mich ehrlich gesagt schockiert. Doch dann fiel mir ein, dass es in der Geschichte öfters Beispiele für Frauen gab, die sich als Männer ausgaben, um ein selbstbestimmteres Leben zu Führen. Die Piratinnen Anne Bonney und Mary Read zum Beispiel, die erst bei der Verhaftung ihr Geschlecht preisgegeben hatten.

    Da könnte man jetzt ein philosophischen Diskurs aufmachen: ist es wirklich ein Mehr an Freiheit, wenn man eine vollkommen andere Identität annehmen muss, um alles tun zu können, was man(n) will? Hm, schwierig. In dem Bericht kam nicht so ganz raus, ob die Frauen mit ihrem Leben und ihrer „Wahl“ zufrieden sind, da sie wohl über gewisse Dinge nicht sprechen wollten.

  2. @Lisa
    Wenn du dich dieser Frage mal etwas unterhaltsamer nähern möchtest, empfehle ich dir Terry Pratchetts Weiberregiment (The monstrous regiment).

  3. ist es wirklich ein Mehr an Freiheit, wenn man eine vollkommen andere Identität annehmen muss, um alles tun zu können, was man(n) will?

    die „andere“ identität impliziert, es gäbe eine quasi richtige identität „als frau“. ohne diese gibts keine andere. aber wer sagt uns, dass diese frauen NICHT in ihrer richtigen identität leben? möglicherweise ist die rollenkonforme weibliche identität in wahrheit eine „falsche“, weil unfreie?

    halten uns diese frauen nicht einen spiegel vor? in dem man die unfreiwillige komik sowohl weiblicher als auch männlicher stereotype erkennt?

    und ist nicht auch eine freiheit, diese identität annehmen zu können?

    wieso schockieren diesen frauen in einer gesellschaft, in der transsexualität niemanden mehr schockiert?

  4. @fragezeichen: das – warum so geschockt? – habe ich mich auch gefragt, also auch in dem Beitrag schon. Ich habe den Bildern und den Aussagen der Fotografin keine Wertung in die eine oder andere Richtung entnommen.

  5. @fragezeichen:
    Wo habe ich denn geschrieben, dass die erste Identität die richtige ist? Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt, aber mich schockieren nicht die Frauen an sich, sondern, dass sie zum größten Teil dazu, sagen wir mal, „gebracht“ werden. Zumindest kam es für mich so rüber, da die Fotografin auch gesagt hat, dass die Frauen nicht über bestimmte Dinge reden wollen. Das wirkt auf mich, als wollten sie sich selbst verleugnen, um so leben zu können. Und wahrscheinlich wäre es nicht akzeptiert, wenn ein Mann aus irgendeinem Grund wie eine Frau leben würde.
    Aber ich gebe dir recht, es ist wie ein Spiegel. Zumindest habe ich mal ein Argument in der Hand, wenn ein bestimmter Bekannter von mir mal wieder biologisch begründen will, warum er als Mann keinen Putzlappen in die Hand nehmen muss, das sei ja biologisch begründet und nicht anerzogen. ;-)

  6. Ich glaube die wenigsten Menschen möchten mit wildfremden Fotografinnen intime persönliche Details besprechen… Das ist nun kein Hinweis auf Zwang…
    Jedenfalls auf keinen Zwang, der über den hinausgeht, der uns Alle betrifft. Männlichkeit und Weiblichkeit funktionieren grundsätzlich über Zwang, wenn auch einen unpersönlichen/subtilen. Normalität eben… Und die Anpassung daran…

    Irgendwie wirkt die Fotografin in Bezug auf Transidentitäten auch ziemlich naiv… Weder sie, noch die Reporter scheinen diese wirklich ernst zu nehmen, sondern sehen das eher als lebenslange Travestie. Ist natürlich auch schwer, das alles mit „unseren“ Kategorien zu beschreiben.

  7. Pingback: CARTA
  8. … mich schockieren nicht die Frauen an sich, sondern, dass sie zum größten Teil dazu, sagen wir mal, “gebracht” werden.

    wir werden doch alle zu einer identität „gebracht“. der gegensatz zwischen „herkömmlicher“ frau und mannfrau macht diesen unterschied erst sichtbar und deutlich. auch die „richtigen“ frauen werden dazu gebracht, oder um es beauvoir zu sagen: gemacht.

  9. @Fragezeichen

    Das „gemacht“ ist die kontroverse (meiner Meinung auch sinnverfälschende) Übersetzung von Schwarzer. Beauvoir schreibt „devient“ was eine aktive Beteilung an der Entwicklung impliziert (Alternative Übersetzung: Man wird nicht als Frau geboren, man entwickelt sich dazu). Gerade darin liegt meiner Meinung nach der Knackpunkt.

    Der Beitrag zeigt doch gerade, dass es die bewusste und freiwillige Entscheidung der porträitierten Menschen ist, neu diese Rolle zu wählen. Sie werden nicht gezwungen (D. h. es gibt viele gesellschaftlichen Zwänge, aber die Annahme dieser Rolle ist keine von Aussen aufgezwungene Vorschrift), sie entscheiden sich selbst dazu und es ist ihre eigene stetige Repetition die sie immer mehr prägt.

    Das ist eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis, wir sind selbst das stärkste Instrument unserer Rollenprägung, unserer Stereotypisierung. Das ist für mich die direkte Linie von Beauvoir zu Butler und ein entscheidender Punkt wo sich die Analyse Schwarzers oder Irigarays davon unterscheiden.

  10. Gibt es denn auch Untersuchungen über Frauen, die unerkannt als Männer leben?
    Mit Sicherheit tauchen viele oder zumindest einige (nicht nur aber auch lesbische) Frauen in patriarchalen Gesellschaften, in denen sie als Frau allein nicht (über)leben können unter, um als Mann ein eigenständiges Leben führen zu können.
    Falls jemand solche Geschichten kennt, wäre ich für Tipps und LInks dankbar.

Kommentare sind geschlossen.

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