„Als Odysseus die Unterwelt aufsucht, zählen für ihn nur die Helden. Über die Töchter und Mütter der heroischen Helden weiß er nicht viel. Leerstellen hinter der bloßen Nennung ihrer Namen. Mehr ist nicht bekannt. Die Frauen sind Trägerkörper, Wirtsmenschen, Geburts- und Stillgeräte, die ausleiern, schadhaft sind und entsorgt werden. Ich schlüpfe in Odysseus‘ Haut, um ihre Geschichten zu entdecken. Sonst kann ich nichts ausrichten gegen das Verschwinden und die Angst davor. Ich fülle blinde Flecken.“ (S. 61)
„Ich lasse meiner Zunge freien Lauf. Ich stehe die Worte der anderen, um zu überleben. Ich nähe sie zusammen, stopfe die Lücken. (…) Aber die Schrift ist der Tod. Und Kinder sind das Gegenteil. Und deshalb bin ich froh. Für die Kinder habe ich leben gelernt. Fingern und fädeln. Wort ist Faden und Faden macht Welt.“ (S. 182)
Sabine Scholl hat ein neues Buch geschrieben. ‚Wir sind die Früchte des Zorns‘ heißt es. Das Buch handelt von vier Frauengenerationen: der Schwiegermutter, den zwei Großmüttern, der Mutter und der Tochter der Ich-Erzählerin (die große Nähe zur Autorin selbst aufweist). Wie einen Flickenteppich näht sie dabei kurze Szenen aus den jeweiligen Leben aneinander. Von der Vergangenheit in die Gegenwart geht es, vom Aufwachsen als Bauernmagdt in Österreich über das Wohnen im Glanz des herrschaftlichen Versailles, das problemreiche Stillen der ersten Tochter, bis zum nächtlichen Schwimmen in französischen Pools. Das Buch handelt vom Sammeln von Waldfrüchten gegen den Hunger, dem Leben in einem Haus, das nah an für Tiere und Kinder tödlichen Bahngleisen liegt, über Kindergeburtstage in Chicago, nächtliche Einbrüche und den silber lackierten Fingernägeln der ‚Germanys next Topmodel‘-schauenden Tochter.
Zwei Dinge habe ich mich beim Lesen gefragt; zum einen, warum der Titel sich so prominent auf ein anderes Werk bezieht, nämlich auf John Steinbecks ‚Die Früchte des Zorns‚, das ich nie gelesen habe. Eine klare Antwort fand ich nicht. An einer Stelle liest die Protagonistin als junges Mädchen dieses neben vielen anderen Büchern. Wie Steinbecks Roman handelt es sich um eine Familiengeschichte und es kann wohl ebenfalls als Parabel verstanden werden – in diesem Fall als Parabel auf das Mutter-Sein in westlichen Gesellschaften, auf Lebensmöglichkeiten und auf weibliche Kreativität. Sabine Scholl setzt sich dabei klar mit feministische Positionen auseinander. Eine ‚Parabel‘ allerdings hört sich nach trockenen Lehrstück an und wird dieser fesselndem, in kurzer, kraftvoller Sprache geschriebenen Geschichte nicht ganz gerecht.
Zum anderen habe ich mich gefragt, ob eine Geschichte aus rein weiblicher Perspektive, die so sehr sich mit Familienverbindungen und Mutterschaft befasst, nicht Gefahr läuft, eine spezifische ‚Wesenhaftigkeit der Frau‘ zu bestimmen. Und ob die Gleichsetzung von Kindern mit Leben nicht schnell konventionelle Positionen bestätigt. Das Buch tappt jedoch nicht in diese Falle. Es entwirft keinem Familienstammbaum mit festen Ursprüngen und klaren Identitäten, sondern eine lose Genealogie der Überschneidungen, Vermischungen und Wiederhohlungen. Statt einen zeitübergreifenden ‚Geschlechtscharakter‘ zu formulieren beschäftigt es sich mit verschiedenen weiblichen Lebensrealitäten. Es schreibt seine Protagonistinnen nicht fest, sondern lässt ihnen ihre Ambivalenz. Und stellt mehr Fragen als es beantwortet.
(Dieser Text erschien bereits auf Fuckermothers)
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Scholl, S. (2013). Wir sind die Früchte des Zorns. Zürich: Secession.