Nach einer Woche Dauerbelagerung des Kiezes rund um die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin durch bis zu 1700 PolizistInnen ist diese vorerst beendet. Am späten Mittwochabend präsentierten einige Geflüchtete und die VerhandlungsführerInnen von Linke und Grünen ein Einigungspapier zwischen Bezirk und den in der Schule verbliebenen Bewohner_innen. Es ist ein Kompromiss. Eine der zentralen Forderungen der Geflüchteten – nämlich ein Bleiberecht nach §23 des Aufenthaltsgesetzes – ist nach wie vor nicht erfüllt. Deshalb haben nicht alle Bewohner_innen dieses Papier unterschrieben, auch wenn es trotzdem Gültigkeit für sie besitzt. Die Bewohner_innen zeigen sich traurig und enttäuscht, weil die Verhandlungen unter Druck stattfanden. Druck deshalb, weil Baustadtrat Hans Panhoff am Dienstagmittag im Alleingang und entgegen eines Grünenvotums im Bezirk ein Räumungsersuchen bei der Polizei stellte und damit die Bewohner_innen – mal wieder – in eine lebensgefährliche Situation brachte. Einige der Bewohner_innen drohten bereits vor einer Woche vom Dach des Gebäudes zu springen, sollte die Schule geräumt und ihnen kein Bleiberecht gewährt werden. Die Räumung konnte verhindert werden, unter anderem weil am Dienstag mehrere Tausend Demonstrierende Blockaden vor den Absperrungen bildeten und lautstark Protest zum Vorgehen von Politik und Polizei äußerten und ihre Solidarität mit den Geflüchteten zeigten.
Nun ist Polizei ist abgezogen, der Bezirk zeigt sich zufrieden, Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit klopft seinen SenatskollegInnen auf die Schulter, die angeblich die Verhandlungen um eine „friedliche Lösung“ maßgeblich unterstützt hätten. Was falsch ist. Der für Aufenthaltsfragen in Berlin zuständige Innensenator Frank Henkel war die Woche über kaum zu sprechen, kam weder persönlich an die Schule, noch zeigte er bei einer Sitzung des Innenausschusses am Montag Präsenz. Was von ihm lediglich in der Presse zu vernehmen war und ist, ist das vehemente Verweigern der Gewährung eines Bleiberechts, weil sonst angeblich eine „Zwei-Klassengesellschaft“ geschaffen und die Politik sich von den Geflüchteten erpressen lassen würde. Dass solche Äußerungen getroffen werden können, zeigt wie einfach in einer rassistischen Gesellschaft Kräfte- und Machtverhältnisse umgedreht werden können.
Fakt ist, dass noch immer etliche Geflüchtete akut von Abschiebung bedroht sind, weil das vermeintlich wohlwollende Entgegenkommen der Berliner Politik, noch ausstehende Asylanträge zu prüfen, für viele nicht gilt. Entweder, weil ihre Asylgesuche bereits abgelehnt wurden oder Deutschland ihnen keinen Anspruch auf Asyl zurechnet. Marokkaner_innen und Sudanes_innen, denen schlicht nicht geglaubt wird, dass sie aus ihrem Herkunftsland flüchten mussten. Von ihnen leben einige in der Gerhart-Hauptmann-Schule. Zwar hat der Bezirk zugesichert in Aufenthaltsfragen zu unterstützen, allerdings ist unklar, wie das genau geschehen soll und ob es Aussicht auf Erfolg gibt.
Auch die Lage der übrigen Geflüchteten in Berlin ist weiterhin prekär. Unter ihnen sind jene, die letzte Woche Dienstag aus der Schule in andere Unterkünfte gezogen oder durch den „freiwilligen Umzug“ obdachlos geworden sind, sowie die Geflüchteten vom früheren Protestcamp des Oranienplatzes, die nach der gewaltsamen Räumung des OPlatzes nicht in der Schule untergekommen sind. Für sie alle gelten eigentlich die Vereinbarungen mit Integrationssenatorin Dilek Kolat, die allerdings bisher von Senatsseite nicht eingehalten wurden. Im Zeitraum zwischen der Räumung des Protestcamps am Oranienplatz und der Belagerung der Schule durch die Polizei wurden mehrfach Abschiebungen am Flughafen Tegel kurz vor Abflug der Maschine verhindert. Der Flüchtlingsrat Berlin hatte im April das Vorgehen von Senat und Bezirk in Bezug auf die Geflüchteten in Berlin scharf kritisiert.
Die polizeiliche Belagerung des Kiezes hat angeblich 5 Mio. Euro gekostet. 5 Mio Euro, die sinnvoll in Wohnungen, Weiter_Bildungsangebote, Arbeitsplätze und Papiere für die Geflüchteten hätten investiert werden können. Wenn Entscheidungsträger_innen es tatsächlich gewollt hätten. Denn die aktuellen Geflüchtetenproteste, die vor zwei Jahren in Würzburg mit dem Refugee Strike March nach Berlin ihren Anfang nahmen, zeigen deutlich, dass die deutsche Politik schlicht nicht Willens ist, den Forderungen der Aktivist_innen auf ein menschenwürdiges Leben nachzukommen und sich lieber hinter einem Riesen-Apparat aus strukturell rassistischen Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungen/Institutionen versteckt, wo die Verantwortung der Einzelnen schnell in Vergessenheit gerät. Die Bundesregierung sitzt „das Problem“ seither aus und reagiert auf das in Berlin Geschehene trotzdem: Noch vor der Sommerpause sollen das verschärfte „Anti-„Asyl-Gesetz und die Änderungen um den Doppelpass im Bundestag durchgewunken werden. Zum Zeitpunkt von öffentlicher Sichtbarkeit des Widerstandes gegen die rassistische Asyl- und Geflüchtetenpolitik Europas und Deutschlands.
Die Proteste zeigen ebenso, dass nicht nur der Staat und einzelne Bundesländer keinen Funken von Humanität zeigen und lieber Verantwortlichkeiten von sich weisen, sich mit Lippenbekenntnissen schmücken oder die Proteste nutzen, um auf den Rücken der Refugees parteipolitische Machtspielchen auszutragen, sondern dass auch Teile der Gesellschaft versagt haben. Jene Teile nämlich, die sich um Rassismus keine Gedanken machen müssen. Journalist_innen kolportieren bis auf wenige Ausnahmen nach wie vor rassistische Vorurteile über Geflüchtete. Kriminelle, Drogendealer und Schmarotzer werden sie genannt, die angeblich die weiß_deutsche Gesellschaft schröpfen wollen, vom „hart Erarbeiteten“ zu viel haben wollen, Sozialsysteme würden kollabieren und überhaupt könne sich Deutschland eine gerechte und humane Asylpolitik nicht leisten. Journalist_innen sind nicht die einzigen, die so reden und schreiben, ein Großteil der Bevölkerung unterschreibt solche Aussagen.
Und auch weiße_deutsche emanzipatorische Gruppen müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie den Rahmen ihrer Möglichkeiten voll ausschöpfen. Ob es wirklich sein muss, dass große Teile der Berliner Linken im Zeitraum der Besetzung lieber auf ein Festival reisen und bei den für die Geflüchteten in der Schule überlebensnotwendigen Protesten fehlen, obwohl eine Eskalation der Lage Wochen vorher abzusehen war. Ob es wirklich sein muss, dass weiße queer_feministische Kontexte ihre Energie oft in eine antirassistische Pseudopolitik stecken, bei der Repräsentation des eigenen guten Gewissens mehr zählt, als tatsächliche Solidarität mit den Themen, Forderungen und Kritiken, die Geflüchtete und andere antirassistische Aktivist_innen seit Jahrzehnten vorbringen. Wir – und damit meine ich mich und alle anderen, die sich eine Beschäftigung mit und Interventionen in rassistische Verhältnisse aussuchen können – müssen (mehr) Verantwortung übernehmen. Nicht nur, weil das Problem seit Jahrhunderten Rassismus heißt, sondern weil wir alle Entscheidungsträger_innen sind. Der Kampf gegen Lager, Deportationen, Residenzpflicht, rassistische Asylgesetze und -politik in Deutschland und Europa und für Rechte und Forderungen von Geflüchteten geht weiter. Wir entscheiden, ob und wie wir ein Teil davon sind.
Die Geflüchteten in Berlin wünschen sich nach wie vor Unterstützung und Solidarität. Auch vor Ort an der Schule oder am OPlatz. Also haltet euch weiterhin über den Infopoint an der Ohlauer auf dem Laufenden, verfolgt die Geflüchtetenproteste in Berlin und deutschlandweit, geht mit Aktivist_innen ins Gespräch, unterstützt die Forderungen, die nicht erfüllt wurden, fragt nach, was gebraucht wird, seid präsent.
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Links zum Weiterlesen:
Statements der Bewohner_innen während der Belagerung durch die Polizei
Webseite des Refugee Asyl Strike Berlin (Hintergründe und aktuelle Entwicklungen zur Lage der Geflüchteten in Berlin)
lesenswerte Einschätzung von Ines Kappert zur Einigung in der taz
Überblick von Analyse & Kritik zur aktuellen Lage
Pressemitteilung von Pro Asyl zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung und ihr schnelles Durchwinken
Wie ihr die Geflüchtetenproteste (nicht nur in Berlin) unterstützen könnt
Rechtliche Einschätzung von Ibrahim Kanalan zu §23 Aufenthaltsgesetz
weitere Links und Ergänzungen gerne in die Kommentare.
Das Papier ist online:
http://asylstrikeberlin.wordpress.com/2014/07/03/the-agreement-and-its-addition-about-the-school-ohlauer/
La lutte continue
Heute Nachmittag kam ein Soli-Protest-Marsch (für die Refugees der #Ohlauer) in Nürnberg an und einige (wie viele genau konnte ich noch nicht rausfinden, wohl ca 50) der Refugees besetzte das BAMF. Die Besetzer_innen verlangen das gleiche, wie überall und das Mindeste, was ihnen zusteht: Keine Abschiebung, keine Unterbringung in Lagern, keine Residenzpflicht.
Sie drohen ab morgen mit Hungerstreik, wenn es keine Gespräche mit den Verantwortlichen des BAMF gibt. Auch sie brauchen ganz sicher Unterstützung, wenn sie es schaffen, die nächsten Tage dort zu überstehen (d.h. nicht sofort geräumt zu werden)!!
http://ohlauerinfopoint.wordpress.com/2014/07/03/occupation-of-the-bamf-in-nurnberg/
http://www.mittelbayerische.de/index.cfm?pid=10008&pk=1087772
Danke, Nadine, für die super Zusammenfassung!