In Bibliotheken gibt es für gewöhnlich Bücher, CDs, DVDs und andere Medien zum Verleih. Menschen gehen für gewöhnlich in Bibliotheken, um sich Wissen anzueignen und konsumieren dafür Medien. Normalerweise. Seit geraumer Zeit gibt es das Konzept der „living library“, das heißt, Menschen können sich andere Menschen „ausleihen“, die als Expert_innen fungieren und der ausleihenden Person Wissen vermitteln. Mit nach Hause nehmen darf mensch die „lebenden Bücher“ zum Glück noch nicht, allerdings ist der Objektivierungscharakter so oder so gesehen fragwürdig.
Ein neues Projekt, „die lebendige Bibliothek“ in Berlin setzt allerdings noch einen drauf: Dort kann mensch sich ganz säuberlich nach „Diversity“-Aspekten sortiert Muslima, Behinderte, Transsexuelle, Obdachlose usw. ausleihen und sie mit eigenen Vorurteilen und Stereotypen nerven. Unterstützt und gefördert wird das Projekt aus Fördermitteln des Bundes. Da lacht das Herz.
Mal wieder ein typischer Fall: Gut gemeint, schlecht in der Umsetzung. Grundsätzlich soll es darum gehen, Vorurteile abzubauen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, mit denen eine_r sonst aus Gründen nicht ins Gespräch kommt. Ja, welche Gründe eigentlich?! Wäre nicht das interessant zu erfahren? Warum also müssen sich jene den bohrenden Fragen der „Toleranzgesellschaft“ stellen, die sowieso täglich mit Ausgrenzung, Diskriminierung und blöden Sprüchen konfrontiert sind? Sind wir im Zoo? Was werden denn da für Bilder über Menschen und deren Lebenssituationen konstruiert? Sind Transsexuelle, Muslima, Obdachlose nur diese Labels? Welche Kriterien müssen sie erfüllen, damit sie als Expert_innen für ihr Label gelten? Essenzialismus pur, Differenzkarneval für Anfänger_innen.
„Ich wollte unbedingt das Thema Migration…Islam dabei haben. So hatte ich beispielsweise eine muslimische Frau dabei, die gleichzeitig auch als Migrantenbuch aufgetreten ist.“ – „Die haben Lebensgeschichten, das glaubt man gar nicht!“ sind nur zwei Aussagen der Initiatorin des Projektes, die deutlich machen, wer als Zielgruppe der „lebendigen Bibliothek“ konzipiert ist. Am Ende haben sich alle lieb und freuen sich, dass sie sich mal unterhalten haben. Diskriminierung? Einfach Buch ausleihen, ausfragen, nett lächeln und zum Schluss ’nen kleines Bussi auf die Wange. Nie waren Herrschaftsverhältnisse leichter zu überwinden.
Klar, so werden wieder einige meinen, es sei doch ein guter Anfang, man darf nicht zu viel auf einmal erwarten, kleine Schritte, erstmal die Barrieren im Kopf überwinden. Ja, sage ich, alles schön und gut, solange nicht am anderen Ende der Barriere fleißig weiter gebaut wird. Denn dieses Projekt funktioniert mit umgekehrten Rollen nämlich gar nicht, was eigentlich schade ist…
Wie wäre es zum Beispiel damit? Als lesbische Frau wollte ich schon immer mal wissen, wie das mit dem Heterosexismus und der Homophobie bei den Heterosexuellen so funktioniert. Wie die so ticken, wenn sie ein schwules Pärchen auf der Straße sehen (oder zwei Männer dafür halten) oder der mobbende Kolleg_innenpöbel sich das Maul zerreißt über die Kampflesbe aus der anderen Abteilung. Ja, manchmal würde ich Heteros gern die Frage stellen: „Was hat dich bloß so ruiniert?“
Dann könnte ich einfach, wenn ich Lust habe, die Bibliothek aufsuchen, mir so eine Hete ausleihen und wenn ich genug von ihren schmerzhaften Erfahrungen mit Homos habe, stelle ich sie zurück ins Regal und muss nie wieder mit ihr reden. So wie es die Besucher_innen der „Lebendigen Bibliothek“ in Berlin tun, wenn sie das Gebäude verlassen.
danke für den beitrag, mir scheint dieses konzept aus den oben genannten gründen auch recht fragwürdig oder zumindest nicht ausreichend durchdacht.
interessant wäre die beantwortung der frage, wieso menschen sich dort als „lebendiges buch“ zur verfügung stellen, das will mir irgendwie nich kar werden…
Für Geld würde ich sowas ja auch machen und ein paar Gegenfragen stellen.
Ich finde diese Kritik durchaus berechtigt und würde mich freuen, wenn diese an die Organisatoren*innen herangetragen wird und nicht als Blog-Eintrag versauert.
Herzliche Grüße.
wuh – herzlichen Dank für deinen Beitrag! Ich sah das Video zur Bibliothek gestern Nacht auf fluter – und war erst mal nen bisschen schockerstarrt. Auch diese freundlich doofe Stimme dazu: Ja und dann hab ich nach nem Obdachlosen-Buch gesucht. Oder die „Karteikarte“ für das Muslimische „Buch“. Noch mal in Kindersprache: Auch beim Islam gibt es verschiedene religiöse Ausrichtungen, erklär erklär – ja Du weiße Christin musst gar nix wissen – die netten Mindeheiten machen noch mal umsonst und gerne nen Basiskurs mit Dir. Absolut fail dieses Projekt. Frau sollte eigentlich hingehen und sich als Hetero, weiß, christlich etc. „Buch“ anbieten. Wenn frau zu sowas auch noch Zeit hätte…
Sehr interessanter Artikel. Danke für die neue Perspektive. ;)
hm … vielleicht sind die projekte ja zu sehr verschieden, um sie zu vergleichen: aber ich kenne das konzept aus ö (http://www.livingbooks.at) und finde das eine ausgesprochen gute idee (das ganze läuft meines wissens nicht so als buch/objekt-sache ab. mehr wie ein gespräch und als gesprächspartner zur verfügung stehen dann zB eine Notärztin oder ein Biobauer, eine Journalistin, ein Flüchtling usw.). die oben genannte umsetzung (migrantenbuch usw) ist aber in der tat etwas befremdend und kontraproduktiv.
@ aufZehenspitzen
Sorry, aber wo ist der Unterschied? Die Seite, die Du verlinkst zeigt genau das, was Nadine hier so treffend kritisiert hat. Und zusätzlich auch noch einen ganz furchtbar unreflektiert-rassistischen Sprachgebrauch…
Ich zitiere mal:
„Diese ‚lebenden Bücher‘ werden voraussichtlich anwesend sein: Afghane, Afrikaner, Astrologin, Buddhist, Christin zum Islam konvertiert, Ehemaliger Obdachloser, Hauptschullehrerin mit Kopftuch, Imam, Katholische Ordensfrau („Nonne“), Kriminalbeamtin mit Migrationshintergrund, Muslimische Pianistin, Österreicher, Philosoph, Polizist mit türkischen Wurzeln, Schwuler in eingetragener Partnerschaft, Taiwanesin, Türkische Feministin. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!“
„Die Verfügbarkeit eines bestimmten ‚Buches‘ kann nicht zugesichert werden.“
„Der Ablauf ist ganz einfach: Als BesucherIn einer klassischen living books Veranstaltung wählen Sie zuerst aus einem Katalog einen ‚Buchtitel‘ aus (z.B. Asylwerber) und werden dann mit dem anwesenden ‚lebenden Buch‘ (in diesem Beispiel ein realer Asylwerber) in Kontakt gebracht. “
„Das Spektrum der ‚Buchtitel‘ ist breit und reicht von A wie Afrikanerin bis Z wie Zauberer.“
„Zitat einer ‚Leserin‘: 42 Jahre, mit Söhnen 14 und 18 Jahre
Gelesenes ‚Buch‘: Schwuler
‚Eine super Idee! Wir sind begeistert!'“
Ist das deren Ernst?!?
ein „Afrikaner“….brrr
fehlt nur noch dass sie in ihrer eurozentrismus- und kolonialismus-unsensiblen schreibweise noch „indianer“ hinknallen.
#riotnow
Ist das denn so viel anders als wenn sich ne x-beliebige Gruppe ReferentInnen für ne Podiumsdiskussion einlädt? Da wird doch auch nach Expertise/Erfahrung je nach Interessenlage geguckt und nicht danach gefragt ob noch ne lebenslange Freundschaft dabei herausspringt oder wieso man bisher nix miteinander zu tun hatte.
Die Ausdrucksweise mit dem „ausleihen“ von „lebenden Büchern“ ist natürlich reichlich unglücklich gewählt.
@Nandoo
Nee. Wenn ich z.B. als Referentin eingeladen werde, werde ich eingeladen, weil die Einladenden denken, dass ich Ahnung von x oder y habe. Ich werde beim Namen genannt und vorgestellt, manchmal als Teil einer Gruppe, aber eigentlich immer als eine einzelne Person mit irgendwelchen Fähigkeiten. Selbst wenn ich das Gefühl habe, dass mit mir ungerecht umgesprungen wird, bin ich noch in der Position das als Sprechende vor vielen Leuten zu kritisieren.
Die Menschen, die an dem oben genannten Projekt teilnehmen, sind aber einfach nur ‚die Muslima‘, ‚der Obdachlose‘ usw., haben keine Namen, werden so dargestellt, als könnten sie für alle Muslima, Obdachlose etc. sprechen und treffen dann auch noch auf eine eigenartig voyeuristische Faszination der „Buch“-Ausleiher_innen, die wirklich an einen Zoo erinnert. Es ist noch nicht mal klar, ob diese Menschen dafür bezahlt werden!
@Betti oh … stimmt, ja. ich habe, ehrlich gesagt, einfach den link gepostet, ohne mir die homepage anzuschauen. ich kenne diese veranstaltungen von einer freundin, die in einer „flüchtlingshilfe-ngo“ arbeitet und die ganz angetan war. und ich nach ihren erzählungen eben auch – und diese decken sich wenig mit der online-beschreibung. ich sehe das ganze ähnlich wie „nandoo“. – wenn man von der bereits erwähnten „objekt-machung“ absieht (wobei der zugang zu büchern ja für viele menschen ein unterschiedlicher ist)
Es wäre wirklich sinnvoll, wenn die Organisatoren Nadines Kritik zu Ohren käme. Sie ist absolut berechtigt, andererseits gefällt mir auch die Grundidee eines Forums des Austauschs mit kompetenten Menschen. Ich zumindest renne jede Woche die Wände hoch, weil mir Informationen über Leute, die zu einer Minderheit gehören, fehlen, und ich würde so ein Forum gerne nutzen, um mich schlau zu machen – klar, aber nicht die Menschen ausnutzen. Wie könnte man sowas besser machen?
Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt Nadines Text teilweise nochmal in anderen Worten sage:
Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob entweder ein menschliches „Buch“ für einen Beruf konzipiert ist: Ärztin oder Schornsteinfegerin, wobei es Zungang zu diesen Informationen bereits bei Veranstaltungen zu „Berufswahl“ an vielen Schulen gibt. Da können die Neugierigen von Tisch zu Tisch gehen und ihre Fragen stellen. Das ist fast genau die Vorgehensweise der Living Library.
Oder, ob angenommene oder scheinbare Identitäten im Mittelpunkt stehen. Muslima ist kein Beruf. Genausowenig Schwuler. Das unterstellt unter anderem, dass eine die ganze Gruppe repräsentieren kann, dass sie sich innerhalb der Gruppe grundsätzlich ähneln, dass es okay ist, Leute über ihr wahrgenommenes Anderssein auszufragen, dass es okay ist, dieses Anderssein zu festigen, … usw.
@palü Informationen zu den „Minderheiten“ erstmal selbst kräftig suchen. Ich habe neulich ein Zitat gelesen, das lautete (paraphrasiert), es ist nicht nötig/angebracht, den Marginalisierten eine Stimme zu leihen, sondern ein Ohr. Viele marginalisierte Gruppen schließen sich zusammen und publizieren, meistens auch bequem online zugänglich, Informationen, Statements und ihre Sicht auf die Welt, gerade weil sie oft mit Vorurteilen und Schlimmerem konfrontiert werden. Das zu übergehen, indem diese Bibliothek den Zoo der Marginalisierten (ironie) in den Raum des (weißen, hetero,…) Mainstreams stellt, ist für mich keine, auch keine kleine, Verbesserung.
Andere Idee: Die weißen Mittelstandsheteris könnten sich zahlreiche, in D-land selten verstandene, Sprachen aneignen und dann all den marginalisierten Leuten als lebende Infosäulen zur Verfügung stehen. Alle Fragen von „Wie geht meine Steuererklärung“, „Warum pfeift ihr mir immer hinterher“ bis hin zu „Warum werden Deutsche sauer, wenn man sie rassistsich nennt“ oder „Faust nervt“ sind erlaubt! Infoservice 24/7! Jetzt auch in deiner Stadt!
Das sie keinen Namen auf den „Buchumschlagsdeckeln“ haben kann ja genausogut dem Persönlichkeitsschutz geschuldet sein, oder es stellen sich einfach mehrere zu einer Thematik zur Verfügung.
Hatte zum Beispiel vor ner gefühlten Millionen Jahre in der Schule ein Projekt wo es um Prostitution ging und da bei dem Verein nitribitt angefragt ob diese mich mit Infos füttern können. Der Papierkram und die Onlineinfos waren gut und schön, aber unendlich viel wertvoller war die Erfahrung einer ehemaligen Prostituierten die dort aktiv ist. Auch sie sprach nicht für alle anderen, hatte genausowenig wie ich den Anspruch, dennoch ist mir seither ein persönliches Gespräch immernoch am liebsten. Dieses „Basiskurs“-Gerede ist meines Erachtens auch Quatsch, ich kann nunmal nicht mit allen unterschiedlichen Lebenswelten vertraut sein, und deshalb finde ich es gut wenn auch sichere Räume geschaffen werden um einen Austausch zwischen Menschen zu ermöglichen die sonst nie miteinander in Kontakt treten würden, da diese das dann auch aus eigener Motivation heraus tun (Geld, Mitteilungsbedürfnis, egal).
Diese „Zoo“-Sichtweise wird hier glaube ich ziemlich herbeigeredet.
@Nandoo: Erstmal würde ich dich bitten, in der Diskussion hier auf Anwürfe wie „Gerede“, „Quatsch“ und „herbeigeredet“ zu verzichten, auch wenn du die Kritik von Nadine und anderen hier nicht nachvollziehen kannst.
Auch Magda und raupe haben anschaulich erläutert, wo der konzeptionelle Unterschied zwischen „Ich frage eine Referentin mit ausgewiesener Expertise für Thema X an“ und dieser Living-Library-Identitätenzoo-Sache liegt. Dass man nicht mit allen „unterschiedlichen Lebenswelten“ vetraut sein kann, ist ja gar nicht der Punkt (muss man ja vielleicht auch gar nicht sein) – der Witz ist doch, wer hier wessen vermeintliche Lebenswelten als „unterschiedlich“ und identitätsbildend imaginiert und für sich selbst nutzbar machen soll/darf/kann. Und die Frage, wer warum mit wem angeblich oder wirklich nicht „in Kontakt tritt“, könnte man sich natürlich auch mal stellen – so wie die living library konzipiert ist, ist das jedenfalls alles andere als ein sicherer Raum. Um auf dein Beispiel, das Projekt zu Prostitution, zurück zu kommen: Ich unterstelle mal, dass es euch ja nicht darum ging, einfach mal ein bisschen mit einer echten Original-Sexarbeiterin über das, was euch selbst wichtig erschien, zu plaudern. Wenn ich dich richtig verstehe, habt ihr euch entsprechend vorbereitet, habt bei einer einschlägigen Expertinnenorganisation Infomaterial angefordert und euch schlau gemacht, bevor ihr dann eine Referentin angefragt habt, die sich freundlicherweise die Zeit genommen hat, ihre Fachwissen zu vermitteln. Es ging um ein Arbeitsfeld, nicht um eine zugeschriebene Identität. Und natürlich ist es häufig wirkungsvoll und auch einfach auch spaßiger, wenn Wissen und Erfahrungen im persönlichen Kontakt vermittelt werden. Ich finde es aber interessant und wichtig, sich auch mal selbst zu befragen, warum das eigentlich so ist und was man selbst sich von einer solchen Begegnung erwartet. Ist es wirklich immer die reine Wertschätzung der persönlichen Erfahrung des Gegenübers? Was genau möchte man denn eigentlich vom Gegenüber erfahren und/oder ihr mitteilen, und warum ausgerechnet (von) dieser Person? Welche Rolle spielt dabei ein gewisses Maß an Sensationslust, gepaart mit der Überzeugtheit von der Relevanz der eigenen Perspektive auf eine bestimmte „Lebenswelt“ und einem verinnerlichten vermeintlichen Recht auf Informiertwerden zu den eigenen Bedingungen? Und gefällt man sich womöglich auch ganz gut in der Rolle der weltoffenen Über-den-Tellerrand-Blickerin, weil man sich für Obdachlose und Asylbewerber_innen „interessiert“? Sollte man, finde ich, alles mal checken, bevor man sich in den „Austausch“ mit anderen „Lebenswelten“ begibt.
Ich würde gerne mal dort hin und mit den Menschen reden. Das, was ich als erstes fragen würde (egal zu welchem Thema die Person dort mitmacht) wäre, welche Beweggründe die Person hat, sich dort zu beteiligen. Was sie sich selbst davon verspricht.
Vielleicht ist das Projekt an sich, wenn man mal da ist sehr interessant und unterstützenswert und nur der Marketingchef sollte ausgetauscht werden ;). Denn unfraglich ist die Bezeichnung und der Vergleich mit Büchern objektifizierend und kann daher als Degradierung empfunden werden.
Dennoch finde ich es hier als wichtig, die Menschen dort selbst zu fragen. Ich habe hier bei einigen Kommentaren und auch beim Artikel den Eindruck, dass die Schreiber selbst sich als besser gebildet und höherstehend betrachten als die Beteiligten bei diesem Projetkt. Zwar wird hier gesagt, so dass man sich für diese Leute und gegen deren Behandlung als Objekt einsetzt, aber es wird meiner Meinung nach über deren Kopf hinweg geredet und keine Rücksicht auf deren eigene Interessen genommen…
@Shandri: Die Betroffenenperspektive anzusprechen, ist natürlich immer ein wichtiger Punkt. Ich habe die Kommentare hier bisher allerdings nicht so verstanden, dass die Leute, die sich an dem Projekt als „Bücher“ beteiligen, dafür kritisiert würden oder dass ihnen abgesprochen würde, sich bewusst für eine Teilnahme daran entscheiden und das Projekt mitgestalten zu können. Ich finde allerdings, dass die Leute, die als „Leser_innen“ da hingehen (wollen), mal ihre eigene Motivation und ihre eigenen Erwartungen sowie die Position, aus der heraus sie da zum „lesen“ hingehen, begucken sollten – unabhängig von den Motiven derjenigen, die in die Rolle des „Buches“ schlüpfen.
Ich finde die Selbstverständlichkeit, mit der hier in Anspruch genommen wird, als „Normale_r“ mal „mit den Anderen“ über deren „Anderssein“ reden zu wollen, etwas befremdlich. Nach längerem Drübernachdenken stellt sich mir irgendwie die Frage: Wieso denn eigentlich? Im Prinzip gehts bei solchen Projekten im Kern doch um so einen Aha-Effekt, also im Sinne von: „DIE sind ja gar nicht so wie ich immer gedacht hatte“ oder ein Dazulernen im Sinne von: „Ach, also dass Ihr in unserer Gesellschaft das-und-das auszustehen habt, war mir gar nicht bewusst“.
In Bezug auf beide Effekte würde mich mal interessieren, warum man dafür unbedingt als Ausgangspunkt das Gespräch mit Betroffenen brauchen/beanspruchen dürfen soll… Ich fände es glaub ich sinnvoller, mich erstmal mit meinen weißen, gesunden, jungen, wohlhabenden, heterosexuellen und alles in allem eben die Mehrheit unserer Gesellschaft stellenden Freund_innen darüber zu unterhalten, wo wir selbst eigentlich unsere sexistischen, rassistischen, ableistischen, lookistischen etc. Vorurteile und ähnliches herhaben, wie die sich äußern und wie wir damit umgehen wollen. Dass z.B. Menschen mit Behinderung oder People of Color in unserer Gesellschaft struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind, kann ich auch rausfinden, ohne mir das von ihnen selbst erklären lassen zu müssen. Und dass „DIE ja doch gar nicht so anders sind“, dass DIE ja tatsächlich „ganz normale Menschen“ sind, sollte ich mir erst recht auch ohne kommunikativen Beweis klar machen können.
Also, natürlich finde ich die Betroffenenperspektive wichtig, um Dinge als Diskriminierung einordnen zu können etc. Aber bei solchen Projekten wird irgendwie immer so getan, als wäre es selbstverständlich und irgendwie gottgegeben, dass Vorurteile halt bestehen und jetzt aber mal abgebaut werden. Ich fänds glaub ich spannender und zielführender, sich erstmal damit auseinanderzusetzen wie Vorurteile überhaupt erst entstehen – und das müssen eben die Diskriminierenden selbst machen. Also erstmal zu gucken inwiefern man selbst Kacke am Schuh hat bzw. wie man in Zukunft um die Kacke drumrumläuft, anstatt immer schön bräsig reinzulatschen darauf zu warten, dass dann schon jemand kommt und sie einem abkratzt….
Außerdem nervt mich diese Beschränktheit auf einfach und bequem zu erfüllende Kommunikations-Konsumwünsche der Mehrheitsgesellschaft: So lange mir ein Schwarzer geduldig und freundlich gegenübersitzt und meine Fragen beantwortet, so lange mir ein Schwuler nett und freundlich erklärt, dass er doch eigentlich „ganz normal“ ist, geh ich da fröhlich raus und denke, ich hab eine Menge „über DIE“ gelernt und bin ein viel toleranterer, ja: besserer Mensch geworden. Und was ist mit denen, die eben nicht „ganz anders sind“, als meine Vorurteile es mir weismachen? Was ist mit den nicht-freundlichen Schwarzen, die bei mir am Eck dealen und mir jedes mal Belästigungen hinterherraunen, wenn ich vorbeigehe? Was ist mit den Schwulen im Pornokino, den Darkrooms und den Klappen, die nach den Maßstäben der Mehrheitsgesellschaft eben nicht „ganz normal“ leben? Was ist mit der unfreundlichen Lesbe, die mich Scheiß-Hete nicht auf ihrer lesbischen Party haben will und meinen Freund beschimpft? Was ist mit der Muslima, die mein Lotterleben verachtet und mich in die Hölle wünscht? Was ist mit der riesigen Roma-Familie, die das Haus gegenüber komplett vermüllt? Kann ich all denen gegenüber – auch nach einem dufte Gespräch in der living library – WIRKLICH meine rassistischen, sexistischen etc. Vorurteile einfach so im Schrank lassen und sie einfach als Menschen sehen, die ich aus Gründen doof finde, oder die halt einen anderen Geschmack haben als ich?
Und wie ich mit sowas umgehen will, und zwar bis ins letzte Glied meiner persönlichen Menschseinskette, muss ich doch primär mit mir und mit anderen Privilegierten ausmachen – nicht mit den von meinen Vorurteilen Betroffenen. Ich meine, DIE sind doch nur deswegen „Betroffene“, weil sie eben von MEINER Borniertheit (und der der restlichen Mehrheitsgesellschaft) betroffen sind, wieso sollten die ausgerechnet mir denn dann irgendwas erklären/illustrieren müssen?! Ich schnall das einfach nicht…
Sorry, wenn ich das für Viele hier Selbstverständliche nochmal so ausführlich bekakelt hab, aber wenn man selbst noch relativ neu ist in diesen Gedanken, ists ja manchmal hilfreich, sie mal auszuformulieren…
Was @Betti sagt. Danke dafür.
Ich habe den Veranstalter_innen der Oldenburger „living library“ ( mit/von denen auch das Video auf fluter.de produziert wurde) eine Email geschrieben und auf diesen Artikel und die geäußerte Kritik hingewiesen. Ich hoffe, die Veranstalter_innen nehmen die Kritik ernst und werden darauf reagieren.
Den anderen Kommentaren kann ich nicht wirklich viel mehr hinzufügen – der objektivierende und entpersonalisierende Sprachgebrauch macht mich weiterhin sprachlos.
@Anna-Sarah:
Ich finde es interessant, dass Nandoo wegen ihrer relativ harmlosen Wortwahl ‚Herbeigerede‘ kritisiert wird, dass aber unmittelbar darüber raupe unkommentiert von ‚weißen Mittelstandsheteris‘ reden kann. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Meinungen, die nicht denen der Autorin entsprechen, deutlich härter kritisiert werden als die anderen.
Das hier ist euer Blog, ihr könnt hier machen, was ihr wollt. Aber die Vielfalt der Meinungen wird so nicht gefördert.
Nachtrag: ich meinte „dass bei der Mädchenmannschaft Meinungen, die nicht denen der jeweiligen Autorin entsprechen, oft deutlich härter kritisiert werden als die anderen.“
@Katharina: Es geht nicht nur um ein Wort, sondern den Tonfall durch den ganzen Kommentar hindurch und der ist einfach abwertend. Aber seit wann ist es abwertend, weiße heterosexuelle Menschen als solche zu bezeichnen?
@Katharina: es gibt nun mal leider riesengroße Machtunterschiede – wir sind nicht gleichberechtigt oder gleichgestellt in dem Zugang zu Ressourcen einflußreichen Positionen etc.
Deshalb ist es ein grundlegender Unterschied wer aus welcher Position kritisiert oder spottet. Das Wesen der Satire etwa ist es, über die spottende Kritik zu üben, die sich eh schon alles qua Privileg erlauben dürfen. Es ist einfach nur eine erneute Dominanzgeste wenn aus der Mainstream-Sicht, die ja verfälschenderweise als „normal“ und „neutral“ dargestellt wird, wieder mal ge- und beschimpft wird. Das wird hier kritisiert. Das hat meiner Meinung nach – als interessertierter Gast dieses Blogs – damit zu tun, dass sich der Bloh als HERRSCHAFTSKRITISCH versteht.
@ Katharina
Ich versteh nicht, was Dein Kommentar bezweckt, da ich jetzt einfach mal zu Deinen Gunsten unterstelle, dass es Dir nicht einfach nur ums Derailen geht. Dass die Mädchenmannschaft über ihre Moderationspolitik selbst entscheiden kann, erkennst Du ja selbst anscheinend an. Darüber hinaus betreffen die beiden von Dir zitierten Diskurs-Beiträge völlig unterschiedliche Sachverhalte, also einmal direkt an andere Teilnehmer_innen gerichtete Anwürfe, zum anderen eine allgemeine Aussage, die außerhalb der kommunikativen Beziehung der an der Debatte Beteiligten steht (zumal „weiße Mittelstandsheteris“ in unserer Gesellschaft de facto nun wirklich keine Herabsetzung beinhaltet). Wenn mir jemand in einer Diskussion sagt, mein „Gerede“ wäre „Quatsch“, betrifft mich das und meine Diskussionsteilnahme unmittelbar und stark wertend – im Zweifelsfall hab ich in so einem Klima keine Lust mehr mitzudiskutieren. Wenn jemand über mich sagt, ich sei eine weiße Mittelstandsherteri, ist das erstmal eine zutreffende Aussage, inklusive der damit verbundenen Implikationen über meine (privilegierte) gesellschaftliche Stellung und daraus abzuleitenden Forderungen an mich. Ich sehe nicht, in wiefern diese beiden Aussagen also in ihrer kommunikativen Auswirkung vergleichbar sein sollen – es sei denn, man leugnet die eigene Privilegiertheit und empfindet das Sichtbarmachen der eigenen „Background-Merkmale“ („weiß, hetero, mittelklasse“) durch Andere als irgendwie anmaßend/herabsetzend/problematisch. Das wiederum fände ich persönlich dann aber relativ merkwürdig.
Im Übrigen teile ich Deinen empirischen Befund, dass kritische Beiträge hier irgendwie systematisch benachteiligt würden, als auch immer mal wieder kritische Kommentatorin überhaupt nicht. Meiner Erfahrung nach ist das ausschlaggebende Kriterium hier immer, wie die Kritik formuliert ist. Und der Maßstab dafür ist halt allein – wie Du selbst sagst – das von den hiesigen Autorinnen gewünschte und für angemessen befundene Diskussionsklima. Abgesehen davon: Von Meinungsvielfaltsproblematiken kann ich hier auch mal so gar nichts sehen – es wurde sich bis hierhin doch eingehend inhaltlich über unterschiedliche Standpunkte ausgetauscht und zB auch auf Nandoos Punkte ausführlich eingegangen…
@Shandri
das wäre natürlich interessant zu wissen, ändert aber an meiner Kritik nichts. Oft genug kommt es ja vor, dass bei Vorwürfen oder Kritik dann eine Meinung von „den anderen“ eingeholt wird, die das alles gar nicht schlimm finden. Die Person spricht dann wieder für alle und schon sei die Kritik beiseite gewischt, weil ich kenne ja diesen Homo/Schwarzen/Frau/etc. . Was die Motivation für die Betroffenen bei diesem Projekt mitzuwirken ist, darüber steht mir kein Urteil zu. Ich würde mir nur wünschen, dass sie für dieses Ausfragen angemessen entschädigt werden, zumal da bestimmt grenzüberschreitende Dinge gefragt werden.
Ich kritisiere das Projekt als solches und die Initiator_innen. Fakt ist, dass weiße Deutsche, die sich niemals als anders oder abweichend definieren würden, sondern als „normal“ dieses Projekt geplant haben und durchführen, nicht Betroffene. Da setzt meine Kritik an.
@Betti Danke für deine Kommentare, die ziemlich gut das ausdrûcken, was ich seit Erscheinen von Nadines Artikel immer mal versucht habe zu schreiben. Ich muss sagen, dass ich dieses Projekt derart geschmacklos finde, dass ich dazu kaum einen rationalen und nachvollziehbaren eigenen Satz zusammen bekomme.
Manchmal geht mir dieser geheuchelte Toleranzbegriff auf den Zünder.
Wie oft habe ich mich urplötzlich in einem Kontext befunden, in der tolle Tolerante (ich schließe mich da nicht aus) explizit ihre Bereitschaft erwähnen, hier und da wirklich offen zu sein. Ja wirklich total offen und tolerant. Und ich als Homo da stehe und denke: Und jetzt? Soll ich Jubelschreie loslassen? Muss ich das jetzt explizit toll finden? Hat das was mit Toleranz zu tun, sich mit mir zu unterhalten, weil und/oder trotzdem ich z. B. lesbisch bin?
Ich muss mir eh schon die tagtäglichen Gemeinheiten anhören.Wenn ich dann schon als Buch dämliche – pardon interessierte – Fragen a la „und wie hast du Sex?“oder „du siehst garnicht so aus wie …“ anhöre(n muss), dann nur im Kontext einer angemessenen – ja – Entschädigung.
Ich finde das richtig schlimm.
Hallo,
also es kann auf der fluter Seite auch kommentiert werden. ich hab mal den Blogeintrag verlinkt, mal sehen, was passiert.
Wer Zeit und Kraft hat, kann sich ja auch da nochmal einbringen. Danke für den Artikel!!!
Ich habe schon vor einigen Tagen eine kurze Antwort von Elli, der Veranstalter_in der Oldenburger “living library” bekommen, die ich auf diesen Artikel hingewiesen habe. Sie schreibt nur kurz, und wird sich aber bald ausführlicher zurückmelden. Sie schreibt, sie teilt die Kritik, die hier geäußert wird, größenteils, findet das Konzept aber an sich toll und hat in der praktischen Durchführung viele tolle Erlebnisse gehabt. Sie will das Konzept gerne weiterentwickeln, sowohl praktisch als auch theoretisch. (Das war jetzt einfach nur widergegeben, was sie geschrieben hat, und nicht meine Meinung.)
Die Antwort war, wie gesagt, recht knapp, deswegen ist mir auch nicht klar, geworden, welche Kritik sie teilt und welches Konzept „an sich” toll ist. Da will ich auch versuchen, nichts reinzuinterpretieren, sondern zunächst ihre ausführlichere Antwort abwarten.
Das kann ich mir aber doch nicht verkneifen: Wenn ich versuche, mir das „Konzept” ohne seine Schwächen vorzustellen, dann bleibt eigentlich, ähm …_nichts_ übrig. Was ist dann noch toll? Und skeptisch bin ich auch, wenn es darum geht, einen theoritischen Ansatz mit guten praktischen Erfahrungen zu rechtfertigen. Oder ist das jetzt schon wieder meine Lesart und war gar nicht ihre Intention, sondern sie wollte vielmehr aufzeigen, warum sie das Konzept überhaupt weiterentwickeln möchte? Hoffentlich wird das klarer, sobald sie nochmal schreibt.