„Islamistin“ nennt er mich, und ich nenne ihn „Säkularist.“ Er lacht mit mir mit, wir spielen mit Schubladen und Klischees. Zwei Tage schon sind Lucas und ich auf derselben Konferenz. Wir verbringen viel Zeit zusammen, diskutieren und scherzen.
Manchmal aber begegnet mir Lucas recht zurückhaltend, verkrampft und steif. Das liegt an seiner Erziehung, vermute ich. Kindheit und Jugend hat er an elitären Internaten in Frankreich verbracht. Jetzt besucht er eine renommierte Universität. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, Hemd und draußen einen Hut. Lucas ist mir sympathisch mit seiner vornehmen Höflichkeit, die so leicht zu irritieren ist.
Auf dem Weg ins Hotelzimmer hält Lucas mich auf und bittet um ein Gespräch. „Klar.“ Er habe einen Fehler gemacht und schäme sich sehr dafür. Jetzt bin ich neugierig. „Ich dachte, du wärst wirklich eine Islamistin“, sagt er. Erst lache ich noch, dann schaue ich ihn ungläubig an. Er meint es ernst. „Ich weiß, das stimmt nicht, und es gibt keinen Grund für diese Annahme. Ich habe dich einfach voreilig in diese Schublade gesteckt.“ Mein Gott, frage ich mich. Wie muss ich bloß auf andere Menschen wirken? Ich bin verwirrt, irritiert, schockiert. Er bemerkt meine Verunsicherung. „Jetzt sehe ich, dass du gar nicht so anders bist als ich. In vielen Punkten vielleicht sogar liberaler“, sagt er und: „Bitte verzeih.“ – „Ach was, kein Problem“, sage ich eilig. Zwei Tage hat es also gebraucht. Wir verabschieden uns.
Im Hotelzimmer lasse ich die letzten Tage Revue passieren. Und die letzten Jahre.
Eine Freundin erzählte mir kürzlich von einer Podiumsdiskussion, bei der eine Kopftuchträgerin stark feministische Positionen vertrat und das Publikum, ebenfalls feministisch, ihr vehement in jedem Punkt widersprach. Sie hörten nur, was sie hören wollten. Sahen nur, was sie sehen wollten.
Ich erinnere mich an Kommentare zu Artikeln auf meinem Blog und Diskussionsrunden. An das Misstrauen im Gesicht meiner Gegenüber. In ihren Augen spiegelt sich ihr Bild von mir: das Kopftuch und ein bisschen Blabla, in der Luft zerplatzend. Ganz egal wie und was ich sage. Ich rede Seifenblasen.
Mich lässt das Gefühl nicht los, hingehalten zu werden, zu warten. Ich nehme die Demokratie ernst und setze mich für sie ein. Ich arbeite dafür mit, dass es irgendwann eine Gesellschaft gibt, in der man unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, sozialem und finanziellem Status, Bildungsgrad und körperlichem Zustand selbstverständlich sein kann. Ich träume von Gerechtigkeit und sitze brav auf der langen Bank der Demokratie. In der Hoffnung, dass man mir irgendwann glaubt, mich dann vielleicht auch hört und irgendwann sogar versteht. Wofür?
Damit Menschen auf edlen Rössern dahergeritten kommen, denen man neben dem Schnuller auch die Demokratie, freies Denken und Aufklärung in die Wiege legte, und die mir alles absprechen wollen? Und mit welchem Recht?
So funktioniert Demokratie nicht. So gibt es keine Gerechtigkeit. Niemand hat sie gepachtet. Jeder muss dafür arbeiten und aufgeben. Auch ihr.
(Dieser Text erschien ursprünglich als Kolumne in der Taz.)