Henrike Dessaules, gebürtige Berlinerin, lebt, studiert und arbeitet seit über zwei Jahren in Paris. Sie schrieb bereits Texte für Gender Across Borders und war Gastbloggerin beim Missy Magazine, widmet sich aber hauptsächlich ihrem eigenen Blog discipline and anarchy.
Triggerwarnung wegen Bildern von körperlicher Gewalt gegen Frauen in den Verlinkungen [auf Englisch].
Lange bevor sie letzten Sonntag in Paris und ganz Frankreich stattfand, wusste ich von der Demonstration gegen das Ehe- und Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, die von der katholischen Gruppe Civitas organisiert worden war. Mir war bekannt, dass die intégristes – die religiösen Fundamentalist_innen – recht aktiv in Frankreich sind. Erst vor ein paar Wochen sah ich sie gegen das Recht auf Abtreibung marschieren. Obwohl dort mehr Menschen mitliefen, als mir lieb ist, war der Aufmarsch insgesamt nicht sehr beeindruckend, wenn man bedenkt, dass Abtreibungen noch immer ein sehr kontroverses Thema darstellen, und leider nicht nur für religiöse Fanatiker_Innen.
Bei der sogenannten “Homo-Ehe” habe ich hingegen diese krasse Spaltung nicht mehr so wahrgenommen. Ich war überzeugt davon, dass die Gesellschaft grundsätzlich für eine solche Öffnung der Ehe bereit ist. Die meisten Leute, die ich kenne, sind entweder dafür oder stehen dem zumindest gleichgültig gegenüber. Also um es kurz zu machen: Ich ging nicht zur Gegendemo, denn ich war mir sicher, dass auf Seiten der Gegner_innen der Homo-Ehe nicht viele Menschen auftauchen und sie sich lächerlich machen würden.
Aber da irrte ich mich gewaltig.
Über 100.000 Menschen kamen am Sonntag in ganz Frankreich zu diesem Zweck zusammen. Allein in Paris waren es rund 70.000. Die Parolen auf ihren Plakaten wirkten so erzkonservativ und überholt, wie ich es in einem westeuropäischen Land im Jahre 2012 kaum mehr für möglich gehalten hätte: „Die Familie ist heilig.“ „Ein Kind braucht eine Mama und einen Papa.“ Solche Slogans sind nicht nur prinzipiell homophob (egal, was die Protestierenden behaupten), sie spiegeln auch ein Weltbild wieder, das nichts mit der Realität vieler französischer Familien zu tun hat, bei denen ein Elternteil, egal ob homo- oder heterosexuell, alleinerziehend ist. Solch ein Familienbild ist geprägt von einem religiös motivierten Traditionalismus, der dem elementaren französischen Konzept der laicité zuwiderläuft (der Trennung von Staat und Religion, auf die konservative Französ_innen auf einmal besonders beharren, wenn muslimische Bürger_innen eine Moschee gründen oder Halal-Fleisch servieren wollen).
Tausende von Menschen, die zusammenkommen, um anderen ihr Grundrecht auf Familiengründung zu verweigern, sind gehässig und menschenfeindlich, und sie sollten wissen, dass sie in einer toleranten und pluralistischen Gesellschaft nicht willkommen sind. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich leider dabei versagte Solidarität zu zeigen, als es nötig war. Zum Glück gab es viele andere, die sich die Mühe machten bereits im Vorfeld Gegenaktionen zu organisieren und am Sonntag auch wieder dabei zu sein, um für LGBTI-Rechte zu kämpfen.
Unter ihnen befanden sich auch die berühmt-berüchtigten Aktivistinnen von Femen, die ukrainischen Feministinnen, die dafür bekannt sind, Publicity-Stunts zu inszenieren und mit ihrer Nacktheit und anderen „Provokationen“ mediale Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu lenken. Um das klarzustellen: Ich bin kein Fan ihres Aktivismus und ihrer eher simplen Herangehensweise bei teilweise komplexen Problemen. Obwohl ich im Grunde mit vielen ihrer Argumente einverstanden bin, fand ich ihre Protestaktionen oft eher ärgerlich, unüberlegt und/oder vom eigentlichen Thema ablenkend. Dennoch haben sie das Recht, dort aufzutauchen und zu protestieren, wo sie Lust haben, und immerhin sind sie mutig genug, sich den gerichtlichen Konsequenzen zu stellen, was viele von uns sicher nicht behaupten können. Bestimmt haben sie viele Menschen provoziert und beleidigt – mal mehr, mal weniger legitim – und jede hat das Recht, sie dafür zu kritisieren. Was aber niemals geht, ist sie körperlich anzugreifen und ihrer physischen Verfassung zu schaden, und genau das ist am Sonntag passiert.
Femen trafen in gewohnter Weise auf die Demonstrierenden: als halb-nackte Nonnen verkleidet, bemalt mit Slogans wie „In Gay We Trust“ und ausgerüstet mit Sprühdosen auf denen „Sperma“ stand (In den Medien ist von einem „weißen Puder“ die Rede. Entgegen einigen Behauptungen auf Twitter handelte es sich nicht um Tränengas. Wie man auf diesen Fotos sehen kann, wurde Pfefferspray gegen Femen eingesetzt, und nicht von ihnen.) War das provokativ und beleidigend? Für die Demonstrierenden bestimmt. Aber verdienten die Aktivistinnen es deshalb, geschubst, geschlagen und getreten zu werden? Verdienten es die Journalist_Innen, die das Geschehen filmten?
Denn genau so ist es passiert. (Ich verzichte hier auf genaue Beschreibungen; die Fotos und Videos in den Links sprechen für sich.) Und das ist für mich der eigentliche Skandal, die wahre Provokation: dass eine Gruppe von Menschen, die sich angeblich um Familien und „die armen Kinder“ sorgt, vor den Augen ihrer eigenen Kinder Frauen verprügelt. Dieses Verhalten macht mich sprachlos und entsetzt; ich hoffe, dass es Konsequenzen für die Schläger geben wird und dass die französische Regierung nicht von ihrem Kurs abweicht, die Ehe und das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare zu legalisieren. Die schlimmsten Eltern sind nicht homo- oder heterosexuell; es sind solche, die Konflikte mit Gewalt lösen.
Am 16. Dezember wird nun eine große Demonstration für das Recht auf Ehe und Adoption für homosexuelle Paare geplant. Bei dem Facebook-Event haben sich bis heute schon über 22.000 Menschen angemeldet.
Danke für diesen Kommentar! Ich war auch zutiefst erschrocken, über die Gewalt gegen Femen, und generell darüber, dass heute in Westeuropa eine sechsstellige Zahl von Menschen gegen queere Menschenrechte auf die Straße geht. Man kann das vielleicht ähnlich wie die Finanzierung der Gegenkampagnen bei den Volksabstimmungen in den USA als letztes verzweifeltes Aufbäumen der katholischen Kirche gegen die Menschenwürde von LGBTIQ lesen. Aber im Kontext einer generellen Desolidarisierung der Gesellschaften in Europa und zunehmend wieder offener ausgelebten rassistischen, nationalistischen, antifeministischen usw. Tendenzen macht es mir doch ein wenig Angst :-(