Im postrevolutionären Tunesien wird die Rolle der Frau zum Kampfplatz

Die Tunesierinnen sind stolz auf ihre Gleichberechtigung. „Wir durften früher wählen als die Schweizerinnen“, betont Laila Alphil. Sie ist aktives Parteimitglied der sozialdemokratischen Ettakatol, der drittstärksten Partei in der tunesischen Regierung. Tatsächlich war das postkoloniale Tunesien in Punkto Frauenrechte nicht nur der arabischen Welt, sondern auch manchem Land in Europa voraus. Als Habib Bourguiba 1957 in Tunesien an die Macht kam, schaffte er das auf der Scharia basierende Familienrecht ab, verbot Zwangsehen und Polygamie und schaffte die Gehorsamspflicht gegenüber männlichen Vormündern ab. Frauen durften eine Erwerbsarbeit aufnehmen, ohne ihren Ehemann zu fragen – das war ihnen in Deutschland erst ein Jahr später erlaubt.

Doch jetzt nach der Revolution, die allen mehr Freiheit bringen sollte, fürchten einige um diese über 50 Jahre bewährten Frauenrechte. Aus den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober ging die moderat islamistische Ennahda mit 37 Prozent der Stimmen als stärkste Partei hervor. Allerdings musste sie eine Koalition eingehen mit eher linksstehenden Parteien. Sie regiert nun mit der sozialdemokratischen Ettakatol und dem Kongress für die Republik, einer weiteren Mitte-Links Partei.

Einige fürchten, dass die Islamisten die Familiengesetzgebung ändern könnten und damit die Gleichberechtigung von Frauen abschaffen. „Ich bin nicht in den Kugelhagel im Januar gegangen, damit die Polygamie wieder eingeführt wird“, schrieb die Bloggerin Lina Ben Mhenni. Allerdings hat die Ennahda mehrfach betont, dass sie nichts dergleichen vorhaben. Aber Ben Mhenni sagt: „Man kann diesen Leuten nicht trauen.“ Immer wieder machen Ennahda-Abgeordnete Schlagzeilen mit reaktionären Ansichten: Mal behauptet eine Abgeordnete unverheiratete Mütter seien eine Schande, mal fordert ein Abgeordneter, man müsse den Leuten, die jetzt noch Sit-Ins veranstalten, die Hände und Füße abhacken.

Dabei bemüht sich die Ennahda-Führung um ein moderates Image, auf Reisen nach Europa wird der Ministerpräsident Hamadi Jebeli nicht Müde seine Sympathie für das türkische Modell zu bekunden: Die säkulare Verfassung Tunesiens will er nicht anrühren.

Allerdings macht die Nähe zu den Salafisten die Ennahda unglaubwürdig. In Tunesien bedrohen radikale Salafisten linke Studenten und Professoren und prügeln sich mit ihnen. Der Grund: Die Universitäten wollen den Niqab nicht zulassen. Für die Salafisten, die sich einen Staat wie in Saudi Arabien wünschen und auch von dort finanziert werden, ist der Gesichtsschleier ein Lieblingsthema. Nicht nur französische Politiker haben sich damit in den vergangenen Jahren rumgeschlagen, auch ägyptische und syrische Bildungsminister wurden angefeindet, weil sie das schwarze Gesichtstuch im Unterricht und vor allem bei Prüfungen verboten. In Tunesien hat der Bildungsminister sich um eine solche Entscheidung gedrückt und es den Universitäten anheim gestellt, den Niqab zu verbieten. Er ist ein Ennahda-Mann und seine Partei will es sich nicht mit den Salafisten verscherzen, da viele von ihnen auf den Ennahda-Wahllisten kandidierten. Die Salafisten durften keine eigene Partei aufstellen, weil sie sich nicht zur tunesischen Verfassung bekennen. Einen landesweiten Aufschrei provozierte ein salafistischer Student, als er am 7. März an seiner Universität die tunesische Nationalflagge abnahm und dafür die schwarze Flagge der Salafisten aufhängte: In postrevolutionären Zeiten eine unvorstellbare Provokation der mehrheitlich säkularen Parteien. Es kam zu Massendemos gegen die Salafisten.

Die Salafisten seien eine verschwindende Minderheit, glauben Vertreter der Ennahda wie der Säkularen. Aber sie halten die Debatte um den Kulturkampf am Laufen: säkular versus religiös.

Sie wettern gegen die Freizügigkeit der tunesischen Gesellschaft und haben Todeslisten erstellt. Darauf stehen Demokratie-AktivistInnen der ersten Stunde der Revolution. Da sie gegen die Verfassung kaum etwas ausrichten können, wird die Rolle der Frau zum Kampfplatz.

Der Vorsitzende von Amnesty International in Tunesien, Lofti Azzouz, sieht eine schleichende Änderung von Einstellungen: „Junge Frauen fühlen sich unwohl, Bier in der Öffentlichkeit zu trinken oder auf der Straße zu rauchen, weil die Salafisten sagen, eine Muslimin tut das nicht. Daher gehen sie in Cafés, die von der Straße nicht einsichtig sind.“

Tatsächlich sitzen in den Cafés, ob auf der Avenue Habib Bourguiba oder an der Porte de La France, nur Männer. Überhaupt sind Frauen im öffentlichen Raum weit weniger präsent als die selbstbewussten Äußerungen vieler Tunesierinnen vermuten lassen. Weit mehr als vor der Revolution tragen nun Kopftuch, sogar in den wohlhabenden Vororten sieht man junge Frauen mit Niqab.

„Es ist nicht alles perfekt für Frauen“, sagt die Sozialdemokratin Laila Alphil. „Aber wir haben keine Angst vor den Islamisten. Wenn Ennahda den Code Civil anfasst, macht Ettakatol nicht mit.“

Ihre Genossin Zeineb Bellasfar fügt hinzu: „Ihr in Europa seid auch nicht gleichberechtigt.“ Sie erzählt: „In Paris bekam ich ein Flugblatt in die Hand gedrückt für gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ich habe das erst gar nicht verstanden. Hier werden Frauen selbstverständlich genauso bezahlt wie Männer.“ Statistische Erhebungen gibt es dazu allerdings nicht.

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