Wie ich zum Barbie-Girl wurde

Kurz vor der Wende zogen meine Eltern mit mir aus Sachsen-Anhalt ins baden-württembergische Taubertal. Spielen mit Jungs war dann vorbei und ich musste ein Mädchen sein.

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Ja, ich bin ursprünglich eine Ost-Göre: Geboren und aufgewachsen im heutigen Sachsen-Anhalt. Damals – also zu meiner Geburt und die sieben Jahre danach – war das noch die DDR. Ein „richtiges“ Ostkind war ich anfangs nicht: Ich besuchte nie eine Krippe, was schon fast eine kleine Revolution war. Meine Mutter hielt es für besser, sich die ersten drei Jahre bis zu meinem Eintritt in den Kindergarten selbst um mich zu kümmern. Mit dem Ergebnis, dass ich ihr im Alter von zwei Jahren ausbüxte und sie mich nach langem Suchen im Kindergarten wiederfand. Meine Sehnsucht nach der Gesellschaft anderer Kinder war schon früh groß und sollte mir noch viele Jahre im Leben als Einzelkind erhalten bleiben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wenn ich mich an meine DDR-Kindheit erinnere, dann sehe ich mich mit Jungen und Mädchen durch Gestrüpp und kleine Wäldchen stromern. Ich sehe uns Rollenspiele spielen. Und ich sehe ein Mädchen und zwei Jungen, die meine besten Freunde waren und mein Leben bestimmten. An Spielsachen kann ich mich schlecht erinnern. Doch Barbie-Puppen spielten eine untergeordnete Rolle: Zwar hatte ich von meiner West-Verwandtschaft eine geschenkt bekommen, sie lebte aber ein wenig glamouröses Leben neben Ost-Puppen mit normalem Körperbau, neben Matchbox-Autos, Plüschtieren und Cowboy- und Indianer-Figuren, die uns Kindern um ein vielfaches wichtiger waren.

Das lag vor allem daran, dass unsere Spielgemeinschaft so geschlechtsheterogen war. Meist zauberten wir aus Stöcken, verrostetem Gerät und was sonst noch auf den Höfen und in den Wäldchen herumlag, die Gegenstände, die wir gerade brauchten. Sicherlich war für diese Taktik auch die weltbekannte Güterknappheit der DDR verantwortlich.

Im Jahre 1989, kurz vor der Wende, zog ich mit meiner Familie in ein Dörfchen im lieblichen Taubertal, Baden-Württemberg. Ich wurde in selbigem Dörfchen eingeschult und meine Lebensrealität wurde einer radikalen Umwälzung unterzogen: Statt Rollenspielen mit Unrat und Stöcken hielten weitere Barbies inklusive deren Accessoires, Keypers, Polly Pocket und Co. nun so richtig Einzug in mein Leben. Rosa wurde zur textilen Übermacht. Diese Veränderung schreibe ich rückblickend einem großen Anpassungsdruck an die anderen Mädchen zu.

Da ich einen ostdeutschen Dialekt sprach und mit meinen kurzen Haaren eher wie ein Junge aussah, war ich schnell Außenseiterin in der Klasse – ein Zustand, den mein geselliges Gemüt schnellstmöglich zu beenden suchte. Nicht anders sein – das wurde mein Mantra. Zwar spielte ich noch sehr häufig auch mit den Jungs und der Kontakt mit den Mädchen in meiner Klasse blieb bis auf eine Ausnahme stets gespannt (weswegen ich mir bis zu meinem 12. Lebensjahr wünschte, ich wäre ein Junge) – aber ich hatte durch meine schnelle Annahme des „Gell“ und des „Grüß Gott“, sowie durch eine eindeutige Zusage an Mädchen-Konsumgüter zu erkennen gegeben, dass ich „normal“ im spießbürgerlichen Sinn geworden war. Das Barbie-Haus hatte dazu einen nicht unwesentlichen Beitrag zu leisten vermocht.

Im Alter von 14 konnte ich mich von meinem mir selbst auferlegten Anpassungszwang wieder ein wenig befreien und wurde zum Neo-Hippie. Und weil die Geschichte gut ausging, bin ich ihr dankbar, dass sie mir passierte. Nichts anderes kann einem vielleicht derart plastisch vermitteln, wie stark Sozialisation und Umfeld das prägen, was andere als „genetische Unterschiede“ verkaufen wollen.

(Dieser Text erschien ursprünglich als Kolumne auf Freitag.de)

18 Kommentare zu „Wie ich zum Barbie-Girl wurde

  1. Aber es war doch Deine Entscheidung. Die Einschulung ist meist der erste kleine Bruch, den wir im Leben haben. Wir lernen neue Leute kennen und wollen in der Schule dazu gehören. In der Grundschule halten die meisten Mädchen Abstand von Jungen. Das sehe ich relativ anabhängig davon, ob man seine Kindheit in Sachsen Anhalt oder in Baden-Württemberg verbringt.

  2. Die Grundschule ist auch meiner Meinung nach tatsächlich der erste Ort, an dem man Gruppendynamiken erfährt und lernen muss, sich mit diesen zu arrangieren. Das ist ganz unabhängig vom Umfeld.
    Andererseits möchte ich Deine Schilderungen nicht als an den Haaren herbeigezogen werten, weil mir die Fixierung von Kindern auf Konsumgüter auch schon einmal reichlich merkwürdig vorkam: Bis ich sieben Jahre alt war, gab es die DDR und ich habe da gelebt. Nach der Wende haben mich meine Eltern zum Urlaub auf den Ponyhof an die Nordsee geschickt. Und die anderen Mädchen da hatten alles: Eine tolle Reitausrüstung von Kopf bis Fuß. Und ich hatte nur meine Gummistiefel mitgebracht. Mir war vorher nicht aufgefallen, dass ich das auch alles bräuchte.

  3. danke Karen. Das ist der eigentliche Punkt – vielleicht mache ich das im Artikel nicht deutlich genug: Die Fixierung auf Konsumgüter. Und diese sind eben damals – und sind es meines Wissens heute genauso – derart Geschlechtergetrennt, dass mir manchmal übel wird. Und das gab es einfach wirklich nicht in der DDR. Zudem speist sich meine Analyse, die ich ja mit einigem Abstand zu der damaligen Zeit vornehme, also nicht ausschließen kann, dass ich Dinge hineininterpretiere, das ist schon wahr – auch auf der Erfahrung, dass die Dinge sich dort eben nicht plötzlich mit der Grundschule geändert haben. Die Veränderung bei meinen alten Freunden ging sehr langsam vor sich und in eben dem Maße, in dem auch in Ostdeutschland ein „neuer Geist“ einzog. Ich war nämlich noch sehr häufig dort und erlebte dort, dass ich eben wohl noch genauso wie früher mit den Jungen herumtoben konnte etc…

  4. Was ich mich viel mehr frage (rein theoretisch, denn ich kenne keine Kinder), ist wie sehr die Fantasie unter diesem Überfluss leiden muss. Ich bin ebenfalls mit knappen Ressourcen aufgewachsen (in der UDSSR + Nachfolgestaaten bis ich 13 war), wir hatten kein Puppenhaus und kein Lego, sondern einen Schuhkarton und ein paar verschieden geformte Bauklötze. Dafür ließen sich die Bauklötze zu allem zusammenbauen, was du wolltest, nicht nur zu dem, was auf der Lego-Packung stand. Und der Schuhkarton konnte Schlafzimmer, Schulraum, Auto oder Disko sein. Wenn ich mir vorstelle, dass man heutzutage für seine Barbie ein Barbiehaus, ein Barbieauto, eine Barbiegarderobe (wenn ich für meine Puppen Kleider wollte, musste ich sie entweder selbst nähen oder Mutter/Oma so lange anbetteln, bis sie mir geholfen haben) und sonst was alles besitzt, tut mir die Kinder tatsächlich leid. Können sie sich noch was vorstellen? Können sie sich vorstellen, ihre Barbie ist Schneewittchen, oder brauchen sie dafür die limitierte Schneewittchen-im-Disneylook-Barbie?

    Mit Jungs wollte ich übrigens auch in Rußland auf keinen Fall spielen. Aber als wir dann nach Bayern zogen, hatte ich plötzlich gar keine Wahl. Ich war ganz erstaunt, Freundinnen zu haben, die noch nie auf einen Baum geklettert sind, für die es unvorstellbar war, einen Handstand zu machen und die niemals bei einer Schneeballschlacht mitmachen würden. Ich war aber alt genug, um das direkt mit der Nachlässigkeit der Eltern zu begründen und hatte von da an ziemlich lange ein Schlechtes Bild von deutschen Mädchen und deren Eltern in ihrer Gesamtheit…

  5. „Aber es war doch Deine Entscheidung. Die Einschulung ist meist der erste kleine Bruch, den wir im Leben haben. Wir lernen neue Leute kennen und wollen in der Schule dazu gehören. In der Grundschule halten die meisten Mädchen Abstand von Jungen. Das sehe ich relativ anabhängig davon, ob man seine Kindheit in Sachsen Anhalt oder in Baden-Württemberg verbringt.“

    Sie hat doch geschrieben, dass es nicht so war.
    Und inwieweit man von freier Entscheidung sprechen kann, könnte man ausdiskutieren.
    Ich war immer Aussenseiter aber das war nie meine Entscheidung. Heute bin ich es noch, nicht nur weil ich weiss, wie verächtlich, egoistisch und erbärmlich normale Leute sind, sondern auch weil sie mich schlichtweg langweilen.
    Konsumgüter spielen in der Schule eine große Rolle. In der Grundschule sind es Roboter (oder Barbies), später sind es Klamotten, Handies (zu meiner Zeit noch nicht). Gleichzeitig wollen bestimmte Klischees erfüllt werden (ich war ab der sechsten Klasse der, der Mist baut, der Messer trägt und sich prügelt, während die Mädchen untereinander um Aussehen usw. konkurrieren). Das System zwingt einen in Rollen und insofern ist von freier Wahl nicht zu reden (denn meine Eltern waren gegen Waffen, gegen Gewalt, gegen Markenzwang usw., genauso wie die Lehrer, insofern sind die Einflüsse woanders zu suchen). Wer sich nicht unterordnet, der leidet, dass ist keine freie Wahl und ganz schlimm trifft es die, die äusserlich schon anders sind.
    Allerdings haben wir in der Grundschule auch mit den Mädchen gespielt, fangen und so, weiss ich bis heute.

  6. Ich konnte übrigens damals sehr gut Handstand machen … wollte ich nur anmerken ;o)

    Ich denke, das hängt sehr vom Gesamtumfeld und nicht ausschließlich von den Eltern ab. Ich bin zwar mitten im Ruhrpott groß geworden, aber in einem Haus mit großem wilden Garten, das direkt am Wald mit Bach angrenzte. Das hat meine Kindheit stark geprägt. Ich hatte die Chance, draußen zu spielen und bin bis heute recht glücklich darüber.

  7. Hmm,

    also ich glaube nicht, daß irgendwer ernsthaft eine eventuelle weibliche Präferenz für rosa als genetisch bedingt ansieht. Ansonsten denke ich, daß eine solche Entwicklung – Spielen mit allen, Fixierung auf das eigene Geschlecht, Pubertät – durchaus der Regel entspricht. Wenn es in der DDR weniger Farbe gab, war da in der zweiten Stufe vielleicht nicht soviel rosa dabei (und auch keine Ponies) ;)

  8. es ist die Regel – aber ist es deswegen „natürlich“?
    Ich habe bis zum Schluss immer irgendwie eine sehr gleiche Beziehung zu Jungen und Mädchen behalten wollen (was für Widerstände gesorgt hat – weniger bei den jungen, mehr bei den Mädchen). Das ist alles rein subjektiv, aber ich sage ja oben nur, was mich eben geprägt hat. Mein Mann ist da übrigens ganz ähnlich, obwohl in Westdeutschland erzogen – nur eben in einem „untypischen“ familiären Umfeld, was solche Sachen angeht…

  9. @Killerkitty
    Ich würde sagen ich bin im Spielzeugüberfluss großgeworden und hatte trotzdem keine Probleme mir den Schuhkarton zum Barbieauto umzubauen oder mir vorzustellen die Doktorbarbie wäre jetzt Schneewittchen. :)

  10. Katrin

    „es ist die Regel – aber ist es deswegen “natürlich”?“

    Ich bin kein Entwicklungspsychologe, aber ich denke schon, daß das eine natürliche Entwicklung ist. Es gibt da halt (aus meiner Erinnerung) irgendeinen Punkt an dem man merkt, daß Mädchen Mädchen sind, auch wenn man noch nicht so genau weiß, was man damit anfangen soll. Ich habe mich mal mit Acht in ein Mädchen in der Grundschule verliebt, aber das Resultat war, daß ich „alle Mädchen blöd“ fand, einfach weil ich noch keine Ahnung hatte, was das ist. Als sich dann mit 11 eine ganz Süße in mich verliebt hat, war ich mitten drin in der „Mädchen sind blöd“-Phase und wollte gar nichts mit ihnen zu tun haben. Aber das Kuscheltier, das sie mir geschenkt hat, habe ich doch aufgehoben ;) Hat noch eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden hatte, was und wieso und so weiter ;)… Ich denke, das ist wirklich alles ganz normal. Mehr oder weniger rosa halt.

  11. ‚Natürliche Entwicklung‘? Wo es sich doch um soziales Verhalten von Menschen dreht?

    Der Moment in dem ‚alle Mädchen/Jungs doof sind‘ (den ich offenbar übersprungen habe), ist doch der, wo Mensch anfängt, sich über das Geschlecht zu definieren. Dass es dabei zur Distanzierung vom gedachten Anderen kommt, ist logisch. Aber halt nicht natürlich. Sondern nur logisch in den Fällen, wo das Geschlecht zum zentralen Merkmal der eigenen Identität wird.

  12. ich stimme kinkgkong zu, auch ich konnte trotz vieler spielsachen, diese auch umwandeln für meine individuellen spiele. und obwohl ich in einer weststadt als mädchen großgeworden bin und auch manchmal gerne mit barbies gespielt habe, haben mich meine rosa anziehsachen nie daran gehindert auf bäume zuklettern, skateboard zufahren oder auch mal fußball zuspielen.
    und eine größere konsumorientierung begann bei uns auch erst später in der grundschule. komischerweise mit den ostkindern, die nach der wende neu in unsere klasse kamen und immer die neuesten spielsachen aus der werbung und markenklamotten hatten, weil ihre eltern wahrscheinlich dachten, dass müßte im westen so sein.

  13. „Ost-Puppen mit normalem Körperbau“
    was soll das denn sein? ich habe noch puppen mit normalem körperbau gesehen.
    und was ist überhaupt ein normaler körperbau?

  14. Zitat liskat: „“Ost-Puppen mit normalem Körperbau”
    was soll das denn sein? ich habe noch puppen mit normalem körperbau gesehen.
    und was ist überhaupt ein normaler körperbau?“

    stimmt irgendwie. Aber ich glaube, ihr wisst, wie ich’s meine??

  15. …also ich habe als Bube auch mit „Puppen“ gespielt: Alles Plastiksoldaten (vorzugsweise Allierte World War II, speziell die Briten wegen den Nachthafenförmigen Helmen). Da war keiner dick oder klein oder sonstwas. Alles Athleten und im Verhältnis mindestens 1,80 Meter gross.

    Auch Barbie Ken hat mich diesbezüglich immer beeinflusst: Der muss offenbar immer lächeln und dicke Schlitten fahren um den Barbie Dolls zu gefallen. Athletisch ist er auch noch- wie die Briten ausm‘ Zwoten Weltkrieg.

    Seither habe ich Komplexe. Obwohl ich über 1,80 bin…

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