Über Verlust und Trauer – Bücher und Zines zu Trauer, Suizid und Unterstützung für Trauernde

Dieser Text ist Teil 104 von 140 der Serie Die Feministische Bibliothek

Die Autorin ist Mitte der 1980er geboren, lebt in Berlin und hat sich mit Literatur rund um Trauer, Suizid und Unterstützung für Trauernde befasst. Im ersten Teil, der gestern erschien, beschrieb sie Gefühle und Erfahrungen mit dem Tod von Eltern. In diesem Teil geht es um konkrete Empfehlungen für Bücher, Blogartikel, Zines und Videos zum Thema Trauer, Suizid und Unterstützung für Trauernde.

Gestern schrieb ich, dass es gerade in Trauerphasen sehr wichtig ist, genau in sich hinein zu fühlen, welche Unterstützung (z.B. in Form von Büchern, Freund_innen, Trauergruppen, Therapie…) sich gut anfühlt oder nicht. Es ist total OK, die Trauergruppe nach zwei Sitzungen zu verlassen, weil du dich nicht wohl fühlst. Oder den Kontakt mit einigen Mitmenschen zu verringern, die deinen Schmerz nicht verstehen. Gerade in so einer schweren Zeit ist es enorm wichtig auf sich zu hören. In diesem Text stelle ich zwei Bücher und zwei Zines vor, die mir sehr geholfen haben. Es kann sein, dass diese für dich wenig hilfreich sind. Deshalb liste ich weiter unten weitere Bücher, (Blog)Artikel und Videos auf, die mich begleitet haben, auch wenn ich persönlich nicht alles empfehlen würde – vielleicht ist es für dich kraftspendend.

Zwei Bücher von Chris Paul möchte ich vorstellen, weil sie sehr viele Ressourcen beinhalten, zum Beispiel Übungen und Listen mit Beratungsangeboten. Chris Paul, die selbst ihre Partnerin durch Suizid verloren hat, ist Trauerbegleiterin und Autorin. Sie hat viele Bücher und Aufsätze geschrieben und bietet Seminare und Fortbildungen an.

Chris Paul: „Warum hast du uns das angetan? Ein Begleitbuch für Trauernde, wenn sich jemand das Leben genommen hat“, Goldmann, 2012, 3. Auflage

Chris Paul: „Warum hast du uns das angetan? Ein Begleitbuch für Trauernde, wenn sich jemand das Leben genommen hat“In diesem Buch thematisiert Chris Paul die Vielfalt der Gefühle und Trauerreaktionen von Menschen, die einen nahen Menschen durch Suizid verloren haben. Suizid – oder wie Paul es nennt: Selbsttötung – sei die „am stärksten tabuisierte Todesursache in unserer Gesellschaft“. Während in der Trauerforschung noch häufig Bezug auf recht starre und linear gedachte Trauerphasen-Modelle genommen wird, spricht Paul eher von „Aufgaben des Trauerns“, die sie anhand von Zeitabschnitten („Die ersten Stunden“, „Die ersten Tage und Wochen“, „Das erste Jahr“ und „Trauerjahre/Lebensjahre“) vorstellt. Paul geht also nicht davon aus, dass in bestimmten Zeitabschnitten ganz bestimmte Gefühle stattfinden oder es ein klares Ende von Trauerprozessen gibt, wenn bestimmte Phasen durchlaufen sind. Vielmehr glaubt sie, dass jeder Zeitabschnitt eine Vielzahl an Gefühlen mit sich bringen kann und folgende vier Aufgaben immer wieder bewältigt werden (mal schneller, mal langsamer): 1. Die Wirklichkeit des Todes begreifen; 2. Die Vielfalt der Gefühle durchleben; 3. Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und gestalten und 4. Der oder dem Toten einen neuen Platz zuweisen. Ein Extrakapitel befasst sich außerdem mit Kindern und Jugendlichen als Trauernde nach einem Suizid. Zwischendrin finden sich immer wieder Übungen, die mensch relativ leicht in den Alltag einbauen kann und die helfen können, sich zu entspannen, zu erinnern oder zu reflektieren.

Ich finde das Buch unglaublich gut, weil es ehrlich und leicht verständlich auf viele Themen eingeht, die überlebende Angehörige oftmals beschäftigen: Trauer, Wut, Schuldgefühle, Angst, Suizidgedanken, körperliche und psychische Beeinträchtigungen, aber auch bürokratische und finanzielle Hürden unmittelbar nach dem Suizid. Besonders das Kapitel zu Schuld (und deren Funktion) war für mich ein wichtiger Perspektivwechsel. Kurz nimmt Paul auch Bezug darauf, wie Angehörige von Menschen, die von gesellschaftlichen Normen abweichen (z.B. in Bezug auf Begehren, Hautfarbe, Gesundheitszustand), häufig verstärkt Ausgrenzung und Stigmatisierung erleben, weil der Suizid der Person manchmal dafür genutzt wird, Vorurteile über bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu stärken (z.B., dass Depression automatisch Suizid nach sich zieht). Hier wäre mein einziger Kritikpunkt, dass das Thema sehr kurz kommt und ich gerne mehr dazu gelesen hätte.

Chris Paul: „Keine Angst vor fremden Tränen – trauernde Freunde und Angehörige begleiten“, Gütersloh 2013

Chris Paul: „Keine Angst vor fremden Tränen – trauernde Freunde und Angehörige begleiten“Für dieses Buch bin ich wirklich sehr, sehr dankbar. Ich habe es mir gekauft, weil ich einerseits verstehen wollte, warum ich einige Menschen in meinem Umfeld als wenig unterstützend wahrnahm. Und andererseits half mir das Buch zu reflektieren, wie ich mich in der Vergangenheit zu anderen Trauernden verhalten hatte und warum sich manche Freund_innenschaften in Trauerprozessen verändern oder gar zerbrechen können.

Mit ihrem Buch legt Chris Paul „einen umfassenden Leitfaden für den Umgang mit Trauernden vor, der Sprach- und Hilflosigkeit überwinden hilft, zur Anteilnahme ermutigt und den Abbau von Ängsten und Überforderung ermöglicht.“, so der Klappentext. „Leitfaden“ klang für mich erst einmal etwas starr, aber Paul schafft es, ohne Paternalismus und normativen „Dos & Dont’s“ hilfreiche Tipps zu formulieren und gleichzeitig stets die Kapazitäten und Grenzen der Unterstützer_innen im Blick zu haben.

Paul plädiert deutlich dafür, Trauernde nicht allein zu lassen, ihnen zuzuhören, Anteilnahme zu zeigen und Unterstützung zu geben, ohne sich selbst zu vergessen. Sie nimmt gängige leere Worthülsen und Sprichworte kritisch unter die Lupe („Du schaffst das schon, du bist ja stark“), gibt konkrete Tipps, welche Reaktionen unangemessen sind (z.B. jegliche Kommentare, die den Verlust eines Menschen relativieren) oder zeigt auf, welche Unterstützung häufig von Trauernden als hilfreich eingeschätzt wird (z.B. nicht zu schreiben: „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst“ sondern eher: „Ich würde gerne für dich einkaufen / dir bei der Bürokratie helfen / mir dir einen Spaziergang machen und habe morgen und übermorgen Zeit, passt es dir an einem der Tage?“). Konkrete Angebote sind meist hilfreicher als abstrakte „Melde dich einfach“-Botschaften, weil Trauernde mit so vielen Eindrücken und Gefühlen konfrontiert sind, dass es ihnen noch schwerer als sonst fällt aktiv nach Hilfe zu suchen. Neben immer wieder eingestreuten Erfahrungsberichten von Trauernden findet mensch am Ende des Buches weitere Leseempfehlungen für Kinder und Erwachsene.

Kathleen McIntyre: „The Worst: A Compilation Zine on Grief and Loss“
(Teil 1: Januar 2008 & Teil 2: September 2010)

Kathleen McIntyre - The Worst A Compilation Zine on Grief and Loss - Part 1, 2, 3The Worst: A Compilation Zine on Grief and Loss“ ist ein in bisher drei Teilen erschienenes englischsprachiges Zine-Projekt, dass von Kathleen McIntyre ins Leben gerufen wurde. Kathleen verlor 2001 ihren Vater und fühlte sich mit ihren Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen in linken DIY Punk-Kontexten nicht mehr gesehen. Wenn sie von ihrem verstorbenen Vater oder ihrer Trauer erzählte, wurde sie mit Unwohlsein und Schweigen konfrontiert.

Das Zine-Projekt vereint Geschichten, Gedichte, Kunstprojekte und hilfreiche Ressourcen von und für Trauerende, die mindestens einen Menschen verloren haben, z.B. einen Elternteil, Verwandte, Freund_innen oder Geschwister. Gelesen habe ich die ersten beiden Teile und war beeindruckt von der Bandbreite der Geschichten und Gefühle, die in diesen Zines ihren Platz finden: In allen Geschichten sind Tod und Trauer zentral, in manchen selbstverständlicher Bestandteil. Die Leben und die (teils) komplizierten Beziehungen der Verstorbenen vor ihrem Tod mit den Hinterbliebenen sind oftmals zentral.

Es sind Geschichten voll mit Liebe, Nähe oder Distanz, Gewalt, Drogen, (internalisierten) Klassismus und Rassismus. Thematisiert wurde dazu passend eine breite Palette der Gefühle: Wut, Verzweiflung, Erleichterung, Bitterkeit, Unverständnis, Schock oder Schuldgefühle. Ich habe beim Lesen sehr viel geweint, ab und zu gelacht, manchmal mit dem Kopf geschüttelt oder keine Verbindung mit der Geschichte aufbauen können – es ist eben ein Zine-Projekt mit verschiedenen Anknüpfungspunkten für unterschiedliche Trauerende. Unbedingte Leseempfehlung. In Deutschland erhältlich beim Heavy Mental Zine Distro.

Ressourcen-Liste

Bücher

  • Ingrid Strobel: „Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt. Töchter und der Tod der Mutter“, Fischer, 2004.
  • Ruth Eder: „Ich spür noch immer ihre Hand. Wie Frauen den Tod ihrer Mutter bewältigen.“ Herder, 2007.
  • Barbara Dobrick: „Wenn die alten Eltern sterben. Das endgültige Ende einer Kindheit.“ Herder, 2010
  • Alan D. Wolfelt: „Healing the Adult Child’s Grieving Heart. 100 Practical Ideas After Your Parent Dies“. Companion Press, 2012 (Gibt es auch in der Version für Eltern, die ein Kind verloren haben)
  • Chris Paul: „Warum hast du uns das angetan? Ein Begleitbuch für Trauernde, wenn sich jemand das Leben genommen hat“, Goldmann, 2012, 3. Auflage
  • Chris Paul: „Keine Angst vor fremden Tränen – trauernde Freunde und Angehörige begleiten“, Gütersloh 2013
  • Dorothee Karle (Hrsg.): „Du sammelst meine Tränen…: Texte für Trauernde und ihre Begleiter.“ Herder Verlag, 2015.

Videos

Zines

(Blog-)Artikel

2 Kommentare zu „Über Verlust und Trauer – Bücher und Zines zu Trauer, Suizid und Unterstützung für Trauernde

  1. Vielen Dank für deine sehr persönlichen Gedanken und die Tipps. Das sind einige Paralellen zu meiner Familiengeschichte, wenn es auch länger her ist. Beim lesen ist sind einige Gefühle hochgekommen, denen ich mich in der nächsten Zeit wieder widmen möchte. Danke für deinen Anstoss, der Trauer wieder mehr Platz zu geben.

Kommentare sind geschlossen.

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