Mein Körper – mein Geist – meine Entscheidung!

Merlin betrachtet die Welt aus einer neuro­diversen, queer­anarcha­feministischen und ableismus­kritischen Perspektive. Zudem nickt sie immer stolz, wenn Menschen sie verrückt nennen, lädt diese Menschen danach allerdings ein, über Begriff­lichkeiten zu sprechen. Merlins ersten Beitrag zu ihrem Projekt Realität(en) könnt ihr nun auch bei uns lesen.

Das Projekt Realität(en) möchte Betroffenen einen Raum geben, über ihre Erfahrungen mit Psychiatrie zu sprechen. Menschen, die Lust haben, sich durch ein Inter­view porträtieren zu lassen oder selbst einen Betrag schreiben möchten, sind herzlich dazu eingeladen sich über realitaeten.noblogs.org zu melden.

Sie erforschten mich, sie machten Test, sie schlossen beängstigende Geräte an mich an (keine Sorge, es ist bald vorbei) und sie beobachten mich in einer haltlosen Umgebung der Verwirrung meinerseits – ich weiß, ich bin nicht normal. Denn das ist der Grund weswegen ich hier bin? Wir teilten das Interesse an meiner vermeint­lichen Abnormalität, denn so wie sie die genaue Kategorisierung meiner Person suchten, suchte ich nach der Begründung meiner vermeint­lichen Anders­artigkeit. Mit Bedauern einer nicht sauber gefüllten Schablone, wie eine Socke die bei jeder Wäsche übrig bleibt, teilten sie meiner Mutter mit, nicht genau definieren zu können was an mir falsch sei. Was sie aber mit wissen­schaftlicher Sicher­heit sagen konnten: Das Kind wird nie lesen und schreiben lernen, die Uhr verstehen können, geschweige denn ein normales unab­hängiges Leben führen.

Realität(en)

Kaum eine andere Institution ist so sagenumwoben wie die Psychiatrie am Ende der Straße. Menschen, die die Erfahrung machen mussten über den Zaun zu blicken, möchten in der Regel nicht auf einer Party ein paar Anekdoten ein­fließen lassen, da die Angst vor Stigmatisierung groß und das Erlebte oft nicht richtig einzuordnen ist. Menschen die die Erfahrung erspart geblieben ist, gruseln sich vor den Klischee­bildern und/oder suchen sich dann doch lieber ein weniger heikles Smalltalk-Thema. Schade, denn wir hätten verdammt viel zu besprechen.

Ich musste schon immer darüber sprechen – ganz unfreiwillig – da es seit meiner Kindheit ein Teil von mir war. Das Bedürfnis über das Erlebte zu sprechen fand aber selbst in linken Kreisen verhältnis­mäßig wenig Anklang – wie sollen wir auch miteinander anfangen frei über eine Lebens­realität zu sprechen, die von Menschen in der Regel nur im Stillen geteilt wird, wie wollen wir über Leiden und schwere Zeiten reden und den staatlichen Umgang damit kritisieren ohne persönliche Schmerz­erfahrungen abzuerkennen? Wie können wir es wagen mit wissen­schaftlichen Erkenntnissen zu brechen und diese auf einer anderen Ebene zu hinterfragen?

Realität(en) möchte Raum für den Austausch und das Teilen von Betroffenen­perspektiven öffnen um Diskussionen anzustoßen. Auch soll Austausch stattfinden, um Menschen in ihren Realitäten zu unter­stützen und strukturelle Probleme sichtbar zu machen um uns gegenseitig zu empowern. Denn du bist mit deinen Erfahrungen ganz sicher nicht allein.

Bei uns Standard

Wir reproduzieren tagtäglich Vorstellungen von vermeintlich „normalen“ Verhalten und problematisieren dabei Abweichungen. Durch Stress viel zu rauchen und sich tag­täglich mit Lohn­arbeit selbst auszubeuten, gehört selbst­verständlich zu der Welt in der wir leben.

Illegale Drogen zu konsumieren und dem Leistungs­druck auf Dauer nicht standhalten zu können nicht. Unsere Werte und Bewertungen sind sozial und kulturell geprägt und funktionieren daher genau so lange, wie wir innerhalb unseres Leistungs­systems funktionieren. Über­schreiten wir diesen Punkt mit unserem Tun, gelten wir als entgleist und möglichst schnell wieder in Ordnung zu bringen. Erfahrungen und Situationen die uns zu diesem Punkt bringen, werden dann meist individualisiert und somit die eigentlichen gesell­schaftlichen Mechanismen die oft hinter unseren Krisen stehen unsichtbar gemacht. Gut zu erkennen ist das schon wie wir darüber fernab von Behandlungs­räumen reden: „Du, ich hab Burnout.“ wird von über­arbeiteten Personen gerne angenommen um dem persönlichen „ich kann/will das gerade nicht mehr“ einen fundierten Namen zu geben, weil eine nicht medizinisch gelabelte Erklärung gesell­schaftlich nicht akzeptabel wäre. Es klar zu benennen kann hilf­reich sein, um deutlich eigene Grenzen abzustecken. Dennoch: wir müssen lernen verschiedene Kapazitäten und Bedürfnisse von Menschen grund­legend anzuerkennen und bestehende Strukturen, welche diese nicht respektieren, zu bekämpfen.

Im Privaten diagnostische Label anzunehmen führt uns noch viel weiter: jedes nicht sozial bekannte Verhalten wird schnell mal bewertet. Achte doch mal in deinem Alltag darauf: Partout nicht aus einer Metall­schüssel essen zu wollen, kann unter Umständen snobby wirken, stellt aber im weiteren Leben kein Problem dar. Dennoch fallen hier schnell pathologisierende Begriffe wie „neurotisch“.

Nicht gewohntes Verhalten und auch verrückte Zeiten im Leben einer Person mit patho­logisierenden Begriffen zu definieren hat dabei zwei negative Folgen: Zum einen wird durch eine Kategorisierung die Möglichkeit zur individuellen Problem­lösung genommen, zum anderen wird Verhalten, welches für die Person selbst normal und handelbar ist, problematisiert. Die Abspaltung zu gewohnten Verhalten macht das „Anders sein als die Norm“ für betroffene Personen verstärkt fühlbar, wir müssen also nicht nur mit uns selbst umgehen, sondern auch noch mit der Stigmatisierung unserer Bedürfnisse. Well, Thanks.

An keinem Ort habe ich je solch eine Zurück­haltung erlebt wie in der Psychiatrie. Da jeder Ausdruck deines Charakters als Abweichung der Gesund­heit gefasst werden kann, verhalten sich viele Menschen auffällig – gar nicht. Die Warschauer Straße rund um Mitter­nacht würde bei weitem mehr in das Bild eines Hauses voller Verrückte passen, als es eine Psychiatrie sich je erträumen könnte. Die genaue Beobachtung eines Menschen mit dem Willen etwas Krank­haftes an diesem fest­zustellen, wirft damit häufiger nicht sehr hilfreiche bis gefähr­liche Situationen auf.

In einem Versuch schickte Rosenhan sieben Personen in eine Klinik, die bei der Einweisung Merkmale von Schizophrenie angaben, sich danach aber wie immer verhielten. Gemerkt hat das natürlich keine*r. Beleidigte Psychiater forderten daraufhin auch Fake-Patient*innen, die ihnen von Rosenhan zugesichert wurden. Bald darauf meinten sie bereits diese entdeckt zu haben.

Der Witz: Rosenhan hatte niemanden geschickt.

Von Menschen die wie in dem Versuch von Rosenhan als problemlos lebend zu Problem­fällen wurden, zu diskriminierenden Mechanismen innerhalb der Diagnose­feststellung greifen also verschiedene Probleme ineinander.

Diagnosen: Ich gesund, du krank

Eine möglichst eindeutige Diagnose steht am Anfang eines Psychiatrie­aufenthalts und prägt die folgenden Behandlungs­methoden und eventuelle Medikamenten­vergabe. Dabei wird das Verhalten einer Person durch Frage­bögen und Gespräche auf mögliche Abweichungen untersucht, die daraufhin wieder gerade zu rücken sind. Was Abweichungen dann genau sind, wird von den Vor­stellungen unserer Gesellschaft und der behandelten Person geprägt.

Betrachten wir z.B. die Fragebögen zu der Borderline Verhaltens­störung, wird rasch klar, das psychiatrische Beurteilungen nicht fern ab von gesell­schaftlichen Maßstäben getätigt werden: Grundlegend wird am Anfang der meisten Fragebögen als erstes gefragt, ob es sich bei der Person um einen Mann oder eine Frau handelt. Das eröffnet nur die Möglichkeiten einer binären Geschlechter­zuordnung, welche andere Geschlechts­realitäten von vorne rein ausschließt und somit Trans*feindlichkeit und Sexismus Tür und Tor öffnet. Oft wechselnde Sexpartner*innen werden als Symptom für eine mögliche Verhaltensstörung genutzt, da von weiblichen Personen eine zurück­haltende Sexualität erwartet wird. Freie Liebe, Romantik und Sexualität nicht als normal zu werten, führt dazu Menschen in veralteten Denkmustern zu halten und deren Bedürfnisse weiterhin zu unter­drücken und unsichtbar zu machen. Die Vorstellung davon was normal für eine Person ist, ist auch hier wie im Rest unserer Gesell­schaft von Diskriminierenden Denken wie Sexismus, Rassismus und Homo/Trans*feindlichkeit beeinflusst. Eine Entmündigung durch behandelte Personen tritt oft schon an dieser Stelle ein: Ich weiß was dein Problem ist und wie wir dich wieder hinbekommen. Die Eigen­wahrnehmung von verrückten Zeiten und der eigenen Person wird fremdbestimmt. Dabei werden oft eigene Bedürfnisse und individuelle Lösungs­ansätze übergangen.

Nach der ersten finalen Diagnose die über mich als Kind getroffen wurde brach Rat­losigkeit aus. Frech, unkonzentriert und zu verwirrt um zu lernen unabhängig ein Leben zu bewältigen – wie sollte damit ohne weitere Unter­stützung umgegangen werden? In letzter Ver­zweiflung entschied sich meine Mutter für den anderen Weg: Sie nahm mich aus der Sonder­klasse, brach weitere Untersuchung ab und bestärkte von nun an alle Arten der musischen und intellektuellen Auslastung. Freier von Normalitäts­vorgaben sollte es nun stark bergauf mit mir gehen.

Jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem ich wieder in der Psychiatrie landete.

Es ist zu deinem Besten

Hinter den Türen der Klinik angekommen, warten auf der Basis der meist vor­gegangenen Unter­suchungen die am meisten fühlbaren Macht­verschiebungen. Ob wir tatsächlich Lust haben eine vielleicht schwere Phase in einer kalten und sterilen Umgebung mit fremden Menschen zu durchleben, zählt hier nicht mehr. Wir sind jetzt Teil eines Alltages, welcher aber nicht mehr unserer ist, sondern der von starren Zeit­ablaufs­plänen und der Bestimmung des Psychiatrie­personals. Raum für freiheitliche Inter­pretationen bietet das natürlich auch, aber nicht auf Seiten der Patient*innen. Durch die permanente Abwesenheit von Selbst­bestimmung, entwickeln sich bis in die kleinsten Bereiche starke Hierarchien. So kann ein Spazier­gang im Klinik­garten (meist umzäunt, ist klar) mit der nicht anzufechtenden Will­kür des betreuenden Personals einfach ausfallen. Grund: Du hast nicht nett genug gefragt. Du hast nicht nett genug nach Sonnen­licht, Bewegung und frischer Luft gefragt, so dass sie dir entzogen werden soll, auf das dir klar wird wer hier richtet. Über das richtet, was dir das letzte bisschen mensch­liche Freiheit bedeutet.

Die bestehenden Hierarchien können nicht nur zu Fremd­bestimmung in Behandlung und Medikamenten­vergabe und somit Grenz­überschreitungen führen, sondern auch ganz konkret zum Ausnutzen der gegebenen Macht. Obwohl es sich um eine vermeid­lich soziale Institution handelt, verhalten sich die betreuenden Personen oft wie Wärter mit Allmachts­gedanken. Von gruseligen Typen, die mal eben im Alleingang die Klamotten von FLTI* Personen durchsuchen, zu will­kürlichen Verboten. So kann die Frage ob eine Person das Recht auf einen Hofgang hat schnell mal verwehrt werden, wenn die betreuende Person schlechte Laune hat oder nicht nett genug gefragt wurde. Ein interessanter Effekt der starken Bevormundung und die damit eintretende Ver­stärkung der sich gegen­überstehenden Seiten von Personal und Patient*innen war in einem meiner Aufenthalte eine sehr solidarische Dynamik die sich zwischen den Patient*innen bildete. Wir tauschten gefährliche verbotene Gegen­stände wie Schoko­lade, erfanden kreativste Wege diese in die Station zu bekommen und versuchten uns gegenseitig vor Ein­griffen zu schützen. Wir fanden mit unseren Bett­nachbar*innen meistens einen sensiblen Umgang mit der jeweiligen Situation und unseren Bedürfnissen – was einmal mehr zeigte das Unter­stützung selbst­bestimmt funktionieren kann.

Was ich brauche, weiß ich doch bitte ganz allein

Bei dieser Kritik geht es mir nicht darum, dir abzusprechen was du fühlst, in welcher Lebens­lage du dich befindest und was du gerade brauchst. Ganz im Gegen­teil. Psychiatrie­kritik geht damit einher, individuelle Lebens und Leidens­geschichten anzuerkennen und gleich­zeitig dem Umgang damit respekt­voll und selbstbestimmt neu zu denken. Wenn wir den Umgang mit verrückten Zeiten neu denken, können wir ohne grenz­überschreitende Autoritäten Frei­räume und Unterstützungs­angebote neu definieren, und somit auch die Vorurteile über z.B. Depressionen gleich mit in die Tonne hauen. Eine neue Ebene von Respekt für die Empfindungen von Situationen und Phasen in unserem Leben, würde es schließlich einfacher machen Bedürfnisse abzustecken und eigene Kapazitäten nicht über­schreiten zu müssen.

Ich habe mich oft gefragt, was mit mir passiert wäre, wenn ich in meiner Kind­heit länger dessen ausgesetzt gewesen wäre. Wenn Neuro­diversität, also andere Gehirn­strukturen und demnach andere Sicht­weisen und Realität(en), auf diese Welt nicht toleriert werden, was hättet ihr dann weiter mit mir gemacht? Die Übung meinen Verstand von meinem Körper abzu­spalten ist mir bis dato noch nicht gelungen, aber ich bin mir fast sicher, dass sie es trotz­dem versucht hätten.

An dem momentanen Hilfssystem hängt klar ein kapitalistisches Wirtschafts­system dran, welches tatsächlich gewollte Hilfe für Menschen schwer zugänglich macht. Einen Therapie­platz bei einer Person zu bekommen die passt ist in der Regel eine lange Prozedur. Wenn wir Unterstützung los­gelöst von diesem anbieten würden, könnten wir unter­schiedliche Arten entwickeln mit­einander zu leben und uns Halt zu geben, ohne Grenzen zu über­schreiten oder Personen im leeren Raum hängen zu lassen. Was ich brauche und will, weiß ich immer noch selbst am besten. Mein Körper, mein Geist, meine Entscheidung.

Wir müssen reden

In welchen Zusammen­hang wir es auch immer betrachten: wir können so viel mehr sein als Kategorien die schon längst eine Daseins­berechtigung verloren haben, um in einem System zu funktionieren, was darauf basierend Menschen voneinander zu trennt. Wir brauchen alle manchmal Hilfe um mit den verschiedensten Umständen umgehen zu können die daran gebunden sind in dieser Gesell­schaft zu leben. Viele von uns durchleben verrückte Zeiten, wo wir gar nicht mehr wissen wo uns der Kopf steht und wir andere Menschen brauchen, um uns zu helfen wieder zu unserer eigenen Normalität zurückzufinden oder uns mit Verrücktheit zu arrangieren.

Nur wird eine veraltete Institution mit starren Mustern und dunkler Geschichte uns nicht die gewünschte Solidarität wie wir sie schaffen könnten geben. Diese wird immer ein Produkt einer kapitalistischen Leistungs­gesellschaft sein, welche Menschen weit unter den Wünschen derer die es möchten unterstützen kann, ihnen ihre Selbst­bestimmung und ihrer Würde beraubt, um Menschen wieder funktional zu machen. Wir müssen neue Arten und Weisen finden, uns gegen­seitig zu unterstützen, ohne individuelle Grenzen zu missachten, vorgefertigte Normen gewaltvoll an Menschen zu pressen und den Kontext von Leiden und Problemen in dem wir uns befinden zu reflektieren.

Es ist 19-56.

Zeit für mehr Psychiatrie­kritik.

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