„Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem du verstanden hast, dass du von Rassismus profitierst?“

Jayrôme C. Robinet ist freier Autor und Spoken Word-Künstler. Gender fluid mit Variationshintergrund, weiß, wird in Deutschland meistens als Person of Color gelesen, Akademiker aus einer bildungsbürgertumsfernen Familie und besitzt die französische Staatsbürgerschaft. Auf Jayrômes Blog veröffentlicht er Gedichte, Analysen und Gedanken in schriftlicher und audio_visueller Form in französischer, deutscher und englischer Sprache.

Das nachfolgende Video und der Text – „An allen Ecken“ – sind eine Hommage an „Cornered“ von Adrian Piper. Mit diesem Installationsprojekt forderte Piper rassistische Blickregime heraus und thematisierte Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Verwandtschaft im Kontext von Rassismus. Die Videos sind aufgrund von Urheberrechten nicht mehr auf Youtube zu finden. Hier könnt ihr eine Transkription von „Cornered“ nachlesen.

***

Ich bin weiß.
Vielleicht fragst du dich, warum ich das zur Sprache bringe?
Das ist nur weiße Salbe, denkst du.
Denn im Grunde sind alle Menschen gleich.
Und überhaupt,
und sowieso,
so zu betonen, dass ich weiß bin,
das ist der Beweis, dass ich mich von den „anderen“ distanzieren will.
Ja, dass ich bestimmte Alltagserfahrungen ausblende,
weil ich lieber dem Club der weißen angehören will,
um Privilegien zu haben.
Wenn du das denkst, hast du ein Problem.
Du setzt voraus, dass es grundsätzlich besser ist, weiß zu sein.
Du siehst ein, dass weiße Privilegien haben.
Ist dir das unangenehm?
Das tut mir leid.
Leider habe ich keine andere Wahl.
Wenn ich dir nichts sage,
wirst du eventuell denken, dass ich nicht_weiß bin.
Und wieso sollte ich dich in diesem Glauben lassen?

Ich erzähle dir kurz die Geschichte der süßen kleinen Teestube, in die ich früher, als ich noch als Frau lebte, regelmäßig einen Kräutertee trank.

Es war einmal eine süße kleine Teestube,
mit einem schönen Bücherregal
und sonnigen Tischen draußen in der Sonne.
An dem Tag will ich das erste Mal wieder hin,
seit ich als Mann durchgehe.
Als ich in die Teestube reinkomme, merke ich, dass die Besitzerin mich nicht erkennt, und das finde ich ziemlich schmeichelhaft.
Plötzlich sehe ich, dass das Schaufenster mit einem Kieselstein beworfen wurde,
das sieht schön aus,
wie ein glasklares, in der Luft hängendes Puzzle.
Während ich das bewundere, fragt mich die Besitzerin:

„Guckst du dir dein Werk an?“

Zitat Ende

Wenn ich nicht ich wäre,
würde ich mich auch anschauen und die Nase rümpfen.
Warum nicht?
Und wenn ich schon so geboren wäre, wie ich jetzt aussehe, würde ich denken:
Misstrauen ist normal.
C’est la vie.
Aber ich war an etwas anderes gewöhnt,
also kann ich vergleichen.

Lass uns Klartext reden:
In Frankreich habe ich lange als durchschnittliche Brünette gelebt,
aber in Deutschland wurde ich
zack
zum Top-Model.
Hierzulande haben mich Männer blickgefickt:
„Sie kommen aus Paris? Wie charmant!“

Das hier ist die Geschichte:
„Wie ich von einem weißen Top-Model zu einem Randalierer mit Migrationshintergrund wurde.“

Mag sein, dass ich in Deutschland eigentlich nie als weiß gelesen wurde
– auch nicht als ich als Frau lebte.
Das Top-Model, das war nicht ich.
Die Sexbombe war meine Haut,
meine Augen waren geile Schlampen,
und meine Haare, mein Akzent …
Früher war ich „exotisch“ und begehrenswert markiert,
heute bin ich „exotisch“ und gefährlich.
Ich bin nicht deswegen sauer auf dich.
Ich denke ja, dass wir weiße rassistisch sind.
Es wäre doch unglaublich, wenn wir es nicht wären.
In weißer Vorherrschaft aufzuwachsen und unbeschadet davon zu kommen,
das wäre doch ein Wunder.
Ich bewundere dich sogar,
weil du nur ein bisschen rassistisch bist,
und unter den gegebenen Umständen ist das schon eine Leistung.

Eigentlich bin ich vor allem sauer auf mich selbst.
In der süßen Teestube, nachdem die Besitzerin mich verdächtigte,
rate mal, was ich getan habe?

Ich habe mir einen Kräutertee bestellt.
Ich habe der Besitzerin nett zugelächelt
und dann ein Buch aus der Leseecke ausgesucht.
Ich habe mich bemüht dieser Frau zu zeigen,
dass sie keine Angst vor mir zu haben braucht.
Keine Angst
vor jemandem wie mir, der sich für Literatur interessiert.
Wie beweist du, dass du nicht gefährlich bist?

Bevor ich die Teestube verließ, habe ich mich bemüht dieser Frau zu zeigen,
dass ich das Buch ordentlich in die Leseecke zurückbringe,
ja, dass ich das nicht klauen will.
Ich denke, diese Frau war sicherlich klug,
anständig,
so ein Mensch, den ich ohne Vorbehalt darum bitten würde,
sich um meine Katze zu kümmern.
Ich bin sauer auf mich, wenn ich mich bemühe zu beweisen,
dass ich ein guter Mensch bin.
Ich bin sauer auf mich, wenn ich mich bemühe zu beweisen,
dass ich überhaupt ein Mensch bin.
Ich bin sauer auf mich, wenn ich auf deine Frage:
„Woher kommst du?“
antworte,
und ich bin sauer auf dich, wenn du wegen „Frankreich“ erleichtert bist,
als hättest du die Lösung einer heiklen Angelegenheit bekommen,
oder entzückt, als hätte ich dir ein Ticket für eine kostenlose Führung durch den Eiffelturm gegeben,
„Paris, die Stadt der Liebe!“
obwohl sich dort jeder hasst.

Jetzt möchtest du mir bestimmt nett zulächeln,
um zu zeigen, dass du mich sicher nicht wie die Besitzerin der Teestube behandelt hättest.
Schau mal,
wenn dein Verhalten sowieso gleich ist,
ob ich weiß bin oder nicht,
dann hast du gar keinen Grund dich unwohl zu fühlen,
dann können wir uns alle wohl fühlen,
was denkst du?
Ich weiss, dass du das auch möchtest.
Daran habe ich keinen Zweifel.
Du wünschst dir auch, dass alle Menschen menschlich und gleich behandelt werden.

Vielleicht liegt das Problem daran,
wenn jemand wie ich weiß ist,
dann kann es jeden treffen:
Türken, Araber, Schwarze
können weiß sein.
Und noch schlimmer –
wie kannst du dann sicher sein, dass du weiß bist?
Auch Ludwig von Beethoven war Schwarz.

Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem du verstanden hast,
dass du von Rassismus profitierst?
Ich war in der 5. Klasse.
Ich habe gesehen, wie unser weißer Lehrer meinen französisch-algerischen Schulkameraden misshandelte.
Ich fühlte mich … entmenschlicht.
Natürlich habe ich das damals nicht so genannt.
„Entmenschlichung“ – das Wort hätte ich nicht mal aussprechen können.
Aber ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.
Das war ein tiefes, schmerzhaftes Gefühl von Hilflosigkeit.
Das war erschütternd.

Anschließend sind die psychologischen Vorgänge leicht zu rekonstruieren:
Um mich nicht machtlos zu fühlen, wollte ich lieber auf der Seite der „Mächtigen“ stehen.
Und damit die Ungerechtigkeit erträglicher wird,
habe ich mir unbewusst erklärt, dass diese Ungerechtigkeit
vielleicht doch nicht so ungerecht ist,
ja,
dass es vielleicht einen „guten“ Grund dafür gibt.

Als ich verstanden habe, dass ich zu dieser Katastrophe beitrage,
habe ich mich geschämt.
Voilà.
So kann ich parallel arrogant bleiben.
Wurde ich nicht in dem Glauben erzogen, dass ich überlegen bin?
Deswegen kommt es nicht in Frage, dass ich proklamiere,
dass auch ich rassistische Erfahrungen im Alltag mache,
einfach nur, damit ich nicht zu den „Tätern“ gehöre.

Das Ganze ist keine Theorie.
Entmenschlichung hat bei mir in der 5. Klasse eingesetzt.
Wann war das bei dir?
Und sie wächst weiter …
bis ich eines Tages vielleicht gar kein Mensch mehr bin.
Und
wie wollen wir nun gemeinsam weiter vorgehen?

2 Kommentare zu „„Kannst du dich an den Tag erinnern, an dem du verstanden hast, dass du von Rassismus profitierst?“

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