Für den langen Winterabend: Die Autobiographie von Emma Goldman

Dieser Text ist Teil 49 von 140 der Serie Die Feministische Bibliothek

Maike Landwehr, 1983 geboren und alleinerziehenderweise vom Vater großgezogen, erkannte schon früh die einengenden Logiken von Geschlechterrollen. Auf die Verweigerung mit Puppen zu spielen und sich “niedlich” anzuziehen, folgte schließlich ein Studium in Hamburg, bei dem sie sich mit Männerphantasien und Frauenbildern in Geschichte und Literatur beschäftigt hat. Maike wird uns heute die Autobiographie „Gelebtes Leben“ von Emma Goldman vorstellen.

„Gelebtes Leben“ (im Original: Living my Life) – der Titel passt: Emma Goldman (1869-1940) hat ihr Leben gelebt, oft kompromisslos, häufig uneigennützig und immer unangepasst. Mit 20 Jahren betrat eine junge Frau die Großstadt New York, sie selbst zählte ihre Lebensjahre später von diesem Zeitpunkt an, denn die Stadt und die Menschen, die sie hier traf und kennenlernte, politisierten sie stark und weckten einen äußerst rebellischen Geist in ihr. In den damals noch jungen Vereinigten Staaten herrschte eine politische Realität, gegen die sie ihr Leben lang ankämpfen sollte.

Der so genannte Haymarket Riot war brutal und für mehrere der Mitorganisator_innen tödlich niedergeschlagen worden und veranlasste neben Goldman noch viele andere, sich gegen die menschenverachtende Arbeitssituation in Fabriken und Betrieben zu wehren. Goldman war es dabei wichtig, nicht in einen starren Dogmatismus zu verfallen, sondern stets auch die Meinungen ihrer Mitstreiter_innen wie die ihrer Gegner_innen anzuhören. Ihr besonderes Anliegen war die Durchsetzung der Redefreiheit in ihrem Land. Einem Land, das sich selbst als Demokratie bezeichnete, dessen ständige Missachtung demokratischer Rechte Goldman jedoch täglich registrierte.

Nicht wenige ihrer Veranstaltungen, auf denen sie ihrem Publikum ihre Vorstellung von Anarchismus nahezubringen suchte, wurden – häufig erst kurz vor Beginn – mit fadenscheinigen Begründungen von Seiten der Bürgermeister und Polizeichefs abgesagt. Oft wurden Goldman und ihre Helfer_innen ohne nähere Begründung festgenommen und über Nacht in eine Zelle gesteckt; Goldman machte es sich nach einiger Zeit zur Regel, stets ein Taschenbuch bei sich zu haben, sodass sie nicht nur den Luxus einer Unterkunft und eines warmen Essens voll auskosten, sondern auch noch bequem etwas für ihre eigene Weiterbildung tun konnte. Dass Goldman angesichts der ständigen Übergriffe durch die Polizei nicht resignierte oder verzweifelte, ist erstaunlich. Ebenso erstaunlich ist ihre unglaubliche Hartnäckigkeit und daß sie sich von den häufig auch brutalen Methoden der Polizisten nicht einschüchtern ließ.

In ihrer monatlich erscheinenden Zeitschrift Mother Earth problematisierte sie etliche tabuisierte Themen, übte offen Religionskritik und schrieb ab 1914 vehement gegen den Wahnsinn des Krieges. Sie trat für Meinungsfreiheit ein und wandte sich gegen jedwede Beschränkung des Individuums. Besonders stark war ihre Anteilnahme für diejenigen, die am Rande der Gesellschaft und am Existenzminimum lebten: Arbeiter_innen, deren brennendste Frage war, wie sie ihre zahlreichen Kinder satt bekommen sollten. Konfrontiert mit dem Elend der Familien, die sie während ihrer Arbeit als Krankenschwester kennenlernte, setzte sie sich vehement für Geburtenkontrolle und die Bekanntmachung von Verhütungsmöglichkeiten ein. Weitere Tabubrüche erlaubte sie sich, indem sie Abtreibung und freie Liebe thematisierte und mit ihren Schriften und Reden für die Kriegsdienstverweigerung machte sie sich viele Feinde. Ihre Agitation gegen die Wehrpflicht war schließlich auch der Grund für ihre Ausbürgerung und Deportation nach Rußland, für das sie sich schon lange begeisterte und in dem sie, wie sie glaubte, gebraucht werde.

Ihre Hoffnungen in Bezug auf die Früchte der „glorreichen Revolution“ sollten jedoch bald enttäuscht werden. Goldmans kritischer Geist konnte und wollte die erschreckenden Zustände in dem von ihr zuvor aus der Ferne hochgelobten Land nicht wie viele der ebenfalls dorthin ausgewanderten Genossinnen und Genossen akzeptieren oder gar entschuldigen. Unzählige Male musste sie sich den Vorwurf der „bourgeoisen Sentimentalität“ gefallen lassen. Nach zermürbenden Kämpfen mit einer korrupten Bürokratie und vielen Versuchen, ihren Platz und ihre Aufgabe zu finden, verließ sie das Land ihrer geplatzten Träume enttäuscht, doch nicht gebrochen.

Weitere Stationen ihres Lebens waren ein längerer Aufenthalt in Frankreich, wo sie ihre Autobiographie verfasste, in Spanien erlebte sie den Bürgerkrieg gegen die Franquisten mit, ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie schließlich in Kanada. Goldmans Leben war erfüllt von Begegnungen mit Menschen und Kulturen und beim Lesen ihrer Autobiographie bekommt mensch Lust, mehr über ihre vielen bekannten und weniger bekannten Weggefährt_innen zu erfahren.

Noch zwei Anmerkungen zur Ausgabe des Nautilus-Verlags seien angefügt: Mit Fußnoten sind die Übersetzerinnen leider sehr sparsam umgegangen; die ein oder andere kurze Erläuterung zu Begriffen und Personen wäre durchaus hilfreich gewesen. Großes Lob gilt hingegen dem Korrektorat: Auf den gut 900 Seiten findet sich kaum ein Schreibfehler (heutzutage ja leider eine Seltenheit), was dieses umfangreiche Werk zu einem auch ästhetisch schönen Leseerlebnis macht. Denn Emma Goldmans autobiographische Aufzeichnungen verdienen es, lesend nacherlebt zu werden.

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