Die Liebe zur Gleichheit im neuen Tunesien

Franca M’hamdi lebt und studiert in Konstanz Literatur-Kunst-­Medien und Gender Studies. Ihre deutsch-tunesischen Eltern brachten sie 1973 in Radolfzell am Boden­see zur Welt, seit 1999 arbeitet sie als Flug­begleiterin. Sie mag Gerechtig­keits­diskurse, Fern­sehserien und Sonnen­baden am See­rheinstrand… Über ersteres schreibt sie seit 2011 auch auf ihrem Blog post_gedanken.

Die Tunesier_innen gaben den Startschuss für die demokratisch-­revolutionären Umwälzungen in der arabischen Welt. Mit dem Umbruch wächst auch die Hoffnung auf die Neu­etablierung und Aus­weitung bereits bestehender Frauen­rechte. Seit der Unabhängigkeit von 1956 sind Polygamie und Verstoßung in Tunesien gesetzlich verboten, es besteht die Möglichkeit einer gericht­lichen Schei­dung auf der Grundlage von Geschlechter­gleichheit. Das Frauen­wahlrecht wurde ebenfalls 1956 eingeführt, seit 1963 war Abtreibung unter be­stimmten Indikationen erlaubt und ist seit 1973 straffrei. Nach offiziellen Angaben werden 99% aller tunesischen Mädchen eingeschult und 50% der Abiturient_innen und Studierenden sind weiblich, während ein Viertel aller Frauen erwerbs­tätig ist (Quelle: taz).

Das ist das frauenrechtliche Erbe der autokraten Herrschschaft von Ben Ali und seinem Vor­gänger Bourguiba. Gleich­berechtigung unter staatlicher Führung war sowohl erwünscht als auch gefördert. Frauen erhielten im Übergang in eine post­koloniale Ge­sellschaft Zu­gang zu Bürger_innen­rechten, Bildung und zum Arbeits­markt. Realpolitsch bedeutete das, dass unabhängige Frauen­organisationen verboten oder über­wacht und unter­drückt wurden. Öffentliche feministische Aktionen waren unmöglich und/oder der Polizei­willkür unterworfen.

Die Jasminrevolution in Tunesien hat Feministinnen wie der Frauen­forscherin Emna Ben Miled, die trotz der staat­lichen Re­pressionen schon vor der Re­volution aktiv waren, zu einer neuen Sichtbarkeit verholfen. Ihre Meinung zum Schleier und religiösen Konservatisvmus ist gefragt und sie fordern eine Aus­weitung der gesetz­lichen Grund­lage der Frauen­rechte. In der neuen tunesischen Ver­fassung wollen sie den Grundsatz der Ge­schlechter­gleichheit verankert sehen und fordern eine Reform des Erb­rechts so wie ein Gesetz zur Straf­verfolgung von Gewalt gegen Frauen.

Seit dem 14. Januar 2010 ist die Öffentlichkeit weiblicher geworden, die Re­volution hat auch jene Frauen politisiert, die sich davor als frei und unabhängig wahr­genommen haben und keinen Anlass für frauen­politische Reformen sahen. Wach­gerüttelt von den Bildern der brutalen Polizei­gewalt zu Beginn der Un­ruhen verfolgen sie jetzt kritisch die politischen Entwicklungen im Land. Ermöglicht wird dies nicht zuletzt durch die Quellen des web 2.0 und Aktivistinnen wie Lina Ben Mehnni. Auf ihrem Blog A Tunisian Girl berichtet sie über die Repressionen vor und nach der Revolution, die Umsetzung der gesetz­lichen Be­stimmungen im Alltag der tunesischen Frauen und stellt andere Frauen­rechtlerinnen vor.

Mit der religiös-konservativen Oppositon als best­organisierte politsche Partei muss auch die Frage nach der Rolle eines religiösen Konservatismus im neuen Tunesien gestellt werden. Die Frauen, die Ende Februar dieses Jahres ein zweites Mal auf die Straße gingen, um den Rücktritt des Über­gangs­premiers Gannouchi zu erwirken, haben davor keine Angst. Das Nein der tunesischen Frauen zu Diskriminierung schließt die Forderung nach einer Minoritätenvertretung mit ein. Damit ist es ein Ja zur Diversität, das sich einer religiös-konservativen Opposition gewachsen fühlen kann. Die enorme Zivil­courage,  die die Tunesier_innen während und nach der Re­volution gezeigt haben, lässt hoffen, dass der tunesische Weg in die Zukunft zu einer erstarkten politischen Teil­habe, einer weiblicheren Öffent­lichkeit und in eine plurale Ge­sellschaft führen wird. Wie schnell und in welcher Form das passiert, werden die Tunesier_innen selber bestimmen. Der neue Premier Essebsi gilt als laizistischer Politiker, der den Grund­satz der Geschlechter­gleichheit in der Ver­fassung verankern will. Den größten Anteil an der Aus­weitung der Fauen­rechte und deren Umsetzung in der sozialen Praxis werden aber die Tunesierinnen selber haben. Ihr Selbst­vertrauen ist in und durch die Revolution enorm gewachsen.

Um es in den Worten einer tunesischen Ärztin zu sagen: „Sollte man versuchen, uns Frauen etwas weg­zu­nehmen, bin ich sofort wieder auf der Straße.“

Ein Kommentar zu „Die Liebe zur Gleichheit im neuen Tunesien

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