Buschkowsky: Die Stimme des Blutes deines Bruders

Grafitti zweier Köpfe an einer WandHeinz Buschkowskys Vorabdrucke aus seinem offen rassistischen Buch „Neukölln ist überall“ werden derzeit in der BILD-Zeitung abgedruckt. „Wo bin ich denn hier eigentlich? Ist das noch meine Stadt, meine Heimat?“, fragt sich Buschkowsky. Ja, möchte ich sagen, das ist Deine Heimat, und meine auch, und das was Du sagst haben schon viele vor Dir gesagt, und sie haben sich damit sogar sehr heimelig gefühlt.

„Wir erziehen unsere Kinder zur Gewaltlosigkeit. Wir ächten Gewalt in der Begegnung und bringen das unserem Nachwuchs bei. Andere bringen ihren Jungs bei, stark, tapfer und kampfesmutig zu sein. Die Ausgangssituation ist einfach ungleich.“

Ich lese so etwas, und ich wundere mich nicht. „Im Zweifel gilt es, der ethnischen Schwester und dem ethnischen Bruder zu helfen.“ Auch darüber wundere ich mich nicht. Ich denke: „Vox sanguinis fratris tui clamat ad me de terra.“ Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.

Buschkowsky ist 1948 geboren. Ich kam 1980 auf die Welt. Als er 1991 das erste Mal Bezirksbürgermeister wurde, wurde ich von meiner Klassenlehrerin im Unterricht nach vorne gebeten, damit ich erklären sollte, wie ich mich zum Irak-Krieg positioniere. Ich wusste damals nicht, wo der Irak liegt, aber das interessierte die Lehrerin nicht – als ethnische Schwester im weitesten Sinne würde ich ja schon etwas irgendwie Erhellendes sagen können. Ich sagte das, was jede_r meine_r Klassenkameraden gesagt hätte, weil wir alle dasselbe Kinderwissen aufgebaut hatten, das Fernsehfetzen hinterlassen. Dass ich Krieg doof finde, und Saddam Hussein auch, und das wusste ich, dass ich nicht mehr zu sagen hatte als meine Altersgenossen im selben Klassenraum, aber ich wusste auch: Wenn ich es sage, ist es etwas anderes, weil ich in den Augen der gesamten Klasse, der Lehrerin, „zu denen“ gehörte, gegen die gerade Krieg geführt wird.

Und weil ich „zu denen“ gehörte, und weil nicht nur die Klassenkameraden und die Lehrerin das so sahen, weil „wir“ zu denen gehörten, begab es sich zu derselben Zeit, dass wir zuhause Drohanrufe bekamen von einem gelangweilten, aggressiven Typen, der uns im Telefonbuch aufgespäht hatte, ganz zufällig. Er hatte eine Krächzstimme, die er noch krächziger verstellte, und schrie immer irgendwas mit „Saddam Hussein“ und „Verreckt doch!“ in den Hörer. Am Ende ignorierten wir Geschwister ihn und krächzten manchmal lachend „Verreck doch selber!“ ins Telefon zurück, obwohl wir eigentlich nicht mehr an den Apparat gehen durften zu der Zeit. Meine Eltern wollten nicht, dass uns diese Vorfälle belasten. Dank Fangschaltung konnte der Mann irgendwann gefasst werden. Er war Lehrer. Ich war elf und ich denke, das Wort Rassismus hatte ich damals noch nie gehört. Ich stehe bis heute nicht im Telefonbuch.

Als Buschkowsky 1992 stellvertretender Bezirksbürgermeister wurde, stellte im Herbst desselben Jahres mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium fest, dass ich eine Namensvetterin hatte, die 1977 an der Landshut-Flugzeugentführung der RAF beteiligt war. Er hatte einen Zeitungsartikel dabei: Eine antiimperialistische Widerstandszelle würde jedes Jahr den Todestag meiner Namensvetterin feiern stand da drin, und mein Deutschlehrer hatte einen Riesenspaß. Jeder Terror-Witz, der ab da über mich in Zukunft gemacht werden sollte, erhielt ab sofort eine neue Qualität.

Als Buschkowsky von 1999 bis 2001 Bezirksstadtrat war, hatte ich gerade mein Studium begonnen und mir bereits mehrfach erklären lassen müssen, dass ich einen „Migrationshintergrund“ habe. Ich hatte meinen Führerschein gemacht und wurde vom Fahrlehrer, der sehr nett war, jede Woche im Theorieunterricht vor versammelter Mannschaft gefragt, wann ich denn nun mal mit dem fliegenden Teppich anreisen würde. Ich zog in ein Haus in meiner Studienstadt, und über mir wohnte ein Neo-Nazi, der seine Kameraden jedes Mal im Hausflur lautstark darüber aufklärte, ich sei „Nordafrikanerin“, wenn er mit ihnen meine Haustür passierte. Manchmal hatte ich das Bedürfnis, ihm einen Atlas zu schenken. Ich lernte in der Universität, was strukturelle Gewalt ist und institutionelle Diskriminierung, und wenn ich manchmal Fernsehen sah, dann wusste ich, dass Politiker_innen darüber niemals etwas gelernt hatten.

Als Buschkowsky im Dezember 2001 Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln und Leiter der Abteilung Finanzen, Wirtschaft und Sport wurde, hatte ich im Rahmen des Vertriebsjobs, dem ich damals neben dem Studium nachging, etwa 29 Mal von Kunden die als „Witz“ gemeinte Frage gehört, wie lange ich noch im Land bleiben dürfe. „Frau bin Laden, arharharhar, Frau bin Laden,“ grunzten einige, „wann müssen sie denn jetzt ausreisen?“

Als Buschkowsky 2006 das Projekt „Stadtteilmütter in Neukölln“ ausdehnte, hatten mir meine Professor_innen bereits etwa hundertmal nahegelegt, die Islamsoziologie zu fokussieren, oder zumindest Terrorismus-Ansätze, mich mindestens jedoch auf Orientalismus-Theorien zu konzentrieren, denn: „Das ist das, was sie am besten können“. Ich war 26 und hatte damals keine Vorstellungen von typisch weißen, typisch nicht-weißen Themen.

Ich saß in einem sozialanthropologischen Seminar zu Multikulturalismus-Theorien, und die Jahrgangsbeste, die bisher alle Prüfungen mit Bestnoten abgelegt hatte, meldete sich und sagte, dass sie auf der Straße „selbstverständlich“ Angst habe wenn sie dort „so einen richtigen Araber mit Bart“ sähe. „Das ist doch ganz normal.“ Wir hatten gerade das Grundstudium abgeschlossen. Ich saß im Seminarraum und dachte zum ersten Mal bewusst über die Qualität des deutschen Bildungssystems nach.

Ich habe in meinem Leben vielleicht etwa 1664 Mal meinen Namen buchstabiert – wenn man davon ausgeht, dass ich in etwa einmal pro Woche in eine Situation komme, in der das nötig ist. Siegfried Heinrich Emil Anton Dora habe ich wahrscheinlich bisher öfter gesagt als meinen eigenen Vornamen, und das stört mich nicht, und vielleicht könnte ich mich aber auch fragen: Wie oft hat Herr Buschkowsky seinen Namen bisher buchstabieren müssen?

Als Buschkowsky 2010 seinen Sozialistenhut verliehen bekam, hatte ich gerade einen Job im Diversity-Bereich einer bundesweit operierenden Firma angetreten. Ich sollte Mitarbeiter_innen für „Diversity“ sensibilisieren, studierte Akademiker_innen aus dem vorwiegend geisteswissenschaftlichem Bereich. Wo ich denn immer „das Kopftuch lassen würde“, wurde ich oft glucksend gefragt. Dass die Firma ja bereits „Diversity“ betreibe, da Leute „wie Sie, Frau S.“ da arbeiten würden wurde manchmal grinsend angemerkt. Ich nahm es hin, und ich wunderte mich nicht.

Als Buschkowsky 2012 diesen Satz veröffentlicht: „Im Zweifel gilt es, der ethnischen Schwester und dem ethnischen Bruder zu helfen“, wird mir zum ersten Mal klar, dass ich ganz bewusst denke: „Ja.“

Ich denke an all die, die Schlimmes erlebt haben und weniger Schlimmes, Subtiles und Direktes, unter der Hand oder ins Gesicht, an all die, neben denen ich im selben Boot sitze, weil wir dort hineingesetzt wurden, nicht weil wir es uns ausgesucht hätten, oder weil wir alle in dieses Boot gehören würden, sondern weil es für uns ausgesucht wurde. Und ich denke: „Vox sanguinis fratris tui clamat ad me de terra.“ Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.

[Crosspost]

12 Kommentare zu „Buschkowsky: Die Stimme des Blutes deines Bruders

  1. Großartig, ganz großartig. Ich habe den Text gestern gestern schon gelesen auf Deinem Blog, und ich muss sagen, es gab kaum etwas dass mich in den letzten Wochen so gepackt hat. Danke dafür.

  2. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich, bevor ich den verlinkten Vorabdruck auf bild.de gelesen habe, nie gemerkt habe was für ein mieses A. der Herr Buschkowsky ist. Ich war jetzt nicht wirklich Fan, aber war wohl ein wenig seinem medialen Sympathie-Gehabe erlegen. Was ein Rassist.

    Wir werden von Politikern regiert, die Multi-Kulti für ein politisches Instrument halten, welches auch scheitern kann, und nicht als die Realität wahrnehmen, deren besseres Funktionieren vor allem die Aufgabe der Privilegierten, wie mir und dem Herrn B. ist.

  3. @TischTisch

    Warum sollte „Multi-Kulti“ nicht auch scheitern können?
    Das wäre zwar kein schönes Szenario, aber unmöglich ist es auch nicht gerade, oder?

  4. Für mich ist Multi-Kulti kein Konzept sondern eine Tatsache, deren Ablehnung per se undemokratisch ist. Man kann natürlich resigniert feststellen, dass das alles nicht so einfach ist mit dem Zusammenleben verschiedener Kulturen, genau wie man pessimistisch (realistisch) feststellen kann, dass die Menschheit zugrunde geht – also scheitert.

    Ich möchte also Politiker, die mir sagen WIE wir Multi-Kulti schaffen können und nicht Politiker, die sich mit „Multi-Kulti ist gescheitert“ Applaus abholen, also gegen M-K sind, also dies für ein Instrument halten, von welchem man auch ablassen kann, oder sogar Gegenmaßnahmen ergreifen kann.

    Die Welt ist Multi-Kulti, die Welt ist unumkehrbar vernetzt, also ist ein Scheitern von Multi-Kulti gleichbedeutend mit einem Scheitern der Welt.

    (Selbst dieses Land ist doch gar seit immer gar nicht denkbar ohne Multi-Kulti.)

  5. MEGA guter Text. Buschkowsky, will man ja fast schreien, du hast diese Stimmung mit geschaffen, aus der du jetzt Kapital schlägst…

    …im Vergleich dazu ist auch die Kritik an Julia Schramms Buch lächerlich. Sie hat es wenigstens vorher gemacht. HB fährt eine konsequente Linie und stellt sich selbst wohl schon immer zu wenig in Frage…

    Liebe Grüße
    R

  6. Multikulti kann selbstverständlich scheitern, wir sehen es doch gerade, und der Weg zum Scheitern ist ja auch im Artikel sehr anschaulich dargestellt. Wenn Migranten hier chronisch nicht akzeptiert werden, wenn genug Leute in Migranten – de facto meint man ja visible minorities und Muslime, wenn man in den Medien von „Migranten“ spricht – Serienkriminelle, Karrierehartzer und religiöse Fanatiker sehen, und genug Migranten in den Inländern Arschlöcher, Opfer und Rassisten – und diese Bilder verstärken sich gegenseitig als selbst erfüllende Prophezeiungen -, dann wird irgendwas passieren. Wahrscheinlich Rückwanderung bei Leuten, die es sich leisten können und deren Herkunftsländer okayen Lebensstandard bieten, und institutionalisierter Rassismus wie ggü den Schwarzen und Latinos in den USA gg die, die bleiben (müssen), begleitet von chronischer niedrigschwelliger Gewalt von beiden Seiten. Damit das passiert muss auf beiden Seiten nur eine relativ kleine Minderheit so handeln – Destruktivität ist immer einfacher. Jeder rassistische Übergriff wiegt tausende nichtrassistische Deutsche auf, jeder Botschaften stürmende Fanatiker oder neuköllner IchmachdichMesser-Macho tausende nichtirre Migranten, und es gibt jeweils positive Rückkopplungseffekte.

    Dass man persönlich „Inländer“ und „Migranten“ anders definiert oder die Kategorien gar nicht sieht oder was auch immer ist in diesem Zusammenhang irrelevant, solange ein Haufen andere Leute das halt nicht so sieht. Die Politik kann und soll natürlich dagegen angehen, aber in einer Demokratie werden wenn das Klima genug vergiftet ist eben irgendwann Leute gewählt, die nicht mehr dagegen angehen wollen, sondern auf Repression und Konfrontation setzen – „genug ist genug“ usw. Das ist alles absolut 100% möglich und wir sind eindeutig auf dem Weg dahin.

  7. Naja, Scheitern klingt für mich immer nach Aus, Ende, Vorbei – neue Ideen müssen her.

    Aber Multi-Kulti ist (Achtung!) alternativlos – das Zusammenleben vieler Kulturen ist für mich alternativlos. Das heißt, selbst wenn es in hundert Jahren noch beschissener aussieht als jetzt, lass ich mir nicht sagen, dass Multi-Kulti gescheitert ist. Das wäre so als würde man sagen die Idee des Friedens sei gescheitert.

    (Es gibt sicher Leute mit Theorien über friedliches nationalistisches Nebeneinanderleben – jeder in seinem Land. An deren Funktionieren glaube ich nicht, oder ich habs noch nicht verstanden)

    Außerdem soll mir doch mal jemand sagen, was gegeben sein muss um von einem Scheitern reden zu können. Ein Fußballspiel ist verloren, wenn mehr Tore eingefangen wurden als geschossen wurden und der Abpfiff bereits ertönte. Ge- oder misslungener Multi-Kulti hängt von viel weicheren Faktoren ab.

    (Übrigens nehm ich diesen Satz zurück: Für mich ist Multi-Kulti kein Konzept sondern eine Tatsache, deren Ablehnung per se undemokratisch ist.
    War zu wenig ausdifferenziert, und somit nur die dreckige Demokratiekeule)

  8. @Tischtisch
    OK, das ist Definitionsfrage. Wenn man sich eines Tages umsieht und die Leute sich wieder farblich sortiert hinter Nationalgrenzen verschanzt haben kann man finde ich schon erstmal von einem Scheitern sprechen. Das heißt nicht, dass der Zustand dann besser wäre, oder alternativlos, oder dass das Konzept disqualifiziert wäre, wie in deinem Beispiel – Frieden ist nicht als Konzept „gescheitert“, weil es nen Krieg gibt, aber trotzdem ist da was ziemlich schiefgegangen, ein Haufen Leute hat gelitten, ein Haufen Leute sind sauer aufeinander, und man muss wieder von vorne anfangen.

  9. Toller Text, aber ich finde schade, dass der satz „“Im Zweifel gilt es, der ethnischen Schwester und dem ethnischen Bruder zu helfen.” so aus dem zusammenhang gerissen ist. Er behauptet ja plakativ, dass das sei was „die“ Ausländer denken. Ich will ihn wirklich nicht verteidigen, ich denke nur, dass er von sich nicht denkt rassistisch zu sein, und er sich selbst solche Sätze nicht zuschreiben würde.

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