„Weg mit der rosa Augenbinde!“

Der folgende Artikel erschien kürzlich im Infoportal Breast Cancer Action Germany. eine andere sicht auf brustkrebs – a critical view of breast cancer . Die Autorin Gudrun Kemper (Jg. 1959), Mitglied im Vorstand des Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V. , arbeitet seit rund 10 Jahren aus der Perspektive von Betroffenen am Thema Brustkrebs.  Sie sagt: Die meisten Selbsthilfegruppen werden heute zum Teil in erheblichem Umfang industriell gesponsert, insbesondere von global agierenden Pharmakonzernen. Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Frauen aus dem Projekt Breast Cancer Action Germany, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine Alternative zu industriell finanzierten Gruppen zu entwickeln.

 Brustkrebsmonat – Weg mit der rosa Augenbinde!

Schwarzweißporträt einer ernst blickenden Frau, die sich eine rosafarben kolorierte Augenbinde abnimmt, so dass ein Auge bereits zu sehen ist
Abbildung: Aktion The Big See! - UNISON und Women Environmental Network (WEN) 2005 - Copyright Mark Chilvers, Großbritannien, mit freundlicher Genehmigung

„Krebs ist Scheiße“ (CANCER SUCKS) steht auf einem bekannten Button von Breast Cancer Action. Das ist zumindest aus der Perspektive von Betroffenen treffend formuliert, auch wenn das Bild der Krankheit Brustkrebs besonders in Deutschland in der Öffentlichkeit heute rosa verpackt und von Fort­schritt geprägt zu sein scheint. Ob Staubsau­ger, Lockenstab, Mode­schmuck, Nagellack oder Bekleidung: mehr und mehr Firmen, aber auch „Selbsthilfe“ und „Charities“ benutzen die Krankheit, diverse Produkte geschäftstüchtig im Schlepptau ihres „Engagements“. Brust­krebs erweckt Aufmerksamkeit im Marketing, um sich selbst ins Gespräch zu bringen und vorgeblich human­istische Ansätze zu demonstrieren.

Doch „Bewusstsein für Brustkrebs“ gibt es inzwischen im Überfluss. Die an Bord solcher Kampagnen mitgeführten Botschaften sind häufig irreführend oder unzulässige Vereinfachungen, die mehr schaden als nützen. Die versprochenen Spenden sind selten transparent und erreichen betroffene Frauen oder medizinische Behand­lungszentren höchstens im Ausnahmefall in nennens­wertem Umfang.

An vorhandenen Defiziten verändern „Brustkrebsmonat“ und Marketingkampagnen dagegen nichts. Krankheitsursachen werden weiterhin nicht hinreichend erforscht. Frauen sind angewiesen auf unzureichende Werkzeuge in Diagnostik und Therapie. Die Anzahl der Neuerkrankun­gen steigt kontinuierlich. Die Sterblichkeit an Brustkrebs sinkt nicht nennenswert, was anhand der GEKID-Zahlen für Deutschland leicht überprüfbar ist. Ob das weltweit größte Mammographie-Screening-Programm „nach europäischen Leitlinien“ in Deutschland daran etwas ändern wird, erscheint vielen MedizinerInnen heute fraglich. KritikerInnen aus den Reihen medizinischer Forschungseinrichtungen und Frauenorganisationen welt­weit bezweifeln die Erfolgsaussichten und attestieren zusätzliche Risiken für Frauen. Die bereitgestellten Informationsmaterialien zu Diagnostik, Behandlung und Therapie kommunizieren insbesondere Risiken nicht hinreichend.

Brustkrebs ist nach wie vor, und allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz, bei vielen Frauen nicht heilbar. Wer sich mit einzelnen Krankheitswegen betoffener Frau­en befasst, wird nach wie vor mit Odyseen unvorstellbaren Leids konfrontiert. Die Antwort auf soziale Probleme jüngerer Frauen mit Brustkrebs heißt in Deutschland Hartz IV, gesellschaftlicher Abstieg, Armut. Brustkrebs als sozia­les Problem wird nicht diskutiert. Leid, Schmerz, Krankheit und Tod betreffen reale Frauen, während das Bild der Krankheit in der Öffentlichkeit umgedeutet wird.

Der sogenannte „Brustkrebsmonat“ Oktober hat sich zum Paradebeispiel einer weltweiten Manipulationsindustrie gemausert. Besonders im Oktober wabert eine rosa Lawi­ne um den Erdball, die Frauen infantilisiert, instrumentali­siert und zugleich den Blick auf das, was an abgesicher­tem wissenschaftlichen Wissen wirklich existiert, wirksam verstellt. Die mehr oder minder kitschigen Aktivitäten mit „rosa Schleife“ sollen für Aufmerksamkeit sorgen und sind dabei zugleich zum Symbol einer industriell umfunktionier­ten Basisbewegung geworden. Selbst konservativere Frauenorganisationen wie der große amerikanische Zusammenschluss der National Breast Cancer Coalition wenden sich bereits seit Jahren gegen solche Aktivitäten. In Großbritannien rufen Frauenorganisationen an Universi­täten wie Parlamenten[1] gleichermaßen dazu auf, die allge­genwärtige „rosa Schleife“, die als Augenbinde verstanden wird, endlich abzunehmen.

Die Medizinsoziologin Gayle Sulik hat in ihrem Buch „Pink Ribbon Blues“ die Gleichung „Frau = Brust = Rosa“ durch alle Untiefen dekliniert. Ihr wichtiges, bei Oxford University Press erschienenes Buch zu Geschichte und Gegenwart der Brustkrebsbewegung findet in Deutschland bisher keinen Verleger. Dabei wäre es wichtig, ihre Arbeiten auch in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Sulik spricht von „Brustkrebsindustrie“. Sie schreibt, dass es kein Zufall sei, wenn mit dem Brustkrebsmonat der amerikanischen Krebsgesellschaft (American Cancer Society) die Mammo­graphie propagiert wird, da sie von der Niederlassung eines der größten multinationalen Chemiekonzerne ge­sponsert worden sei. Die Zeneca-Gruppe von der Imperial Chemical Industry, die später mit Astra fusionierte, sei durch Entwicklung, Herstellung und Verkauf onkologischer Medikamente zu einem der reichsten Mitglieder dieser Brustkrebsindustrie geworden.[2] Mit der Etablierung des Mammographie-Screenings ist es in den letzten Jahren auch hier zu einem nicht unerheblichen Anstieg der Neu­erkrankungen gekommen. Auch hiesige Frauenorganisa­tionen, Selbsthilfegruppen einschließlich der Brustkrebs­demonstrationen wurden von Pharmakonzernen und Medizingeräteherstellern gesponsert. Die Auswirkungen des Screenings in der Tragweite für Frauen sind bisher allerdings noch nicht sicher abschätzbar.

Den geschlossenen Kreislauf durchbrechen

Während die Ursachen von Krebserkrankungen und Brustkrebs ausgeblendet bleiben, während Regierungen sich weigern, Maßnahmen zu ergreifen, um Ursachen adäquat zu erforschen und für sicherere Lebensbedingun­gen von Frauen zu sorgen, während immer mehr Medizin­technik und überteuerte Therapien und Tests zum Einsatz kommen und damit die Finanzierbarkeit eines Gesund­heitssystems schlichtweg für alle gefährden, fordern die kritischen Frauen- und Bürgerrechtsorganisationen zumin­dest endlich strengere Kontrollen für krebserregende Chemikalien.

Hersteller von gesundheitsgefährdenden Chemikalien sind nicht eben selten dieselben Konzerne, die auch die Medikamente herstellen und mit ihren verschachtelten Konzer­nen medizinische Einrichtungen wie Brustzentren betrei­ben. Forschungen multinationaler Konzerne werden auch in hiesigen Behandlungseinrichtungen an Brustkrebspatientinnen durchgeführt. Bei weitem nicht jede medizinische Studie, nicht jedes Experiment ist dabei transparent oder hilfreich oder auch nur mit einer Aussicht auf Behandlungserfolg verknüpft, während überzogene Preise für neue onkologische Medikamente und Testverfahren die eigentlichen Antriebsräder im Geschehen sind.

Zugleich werden Frauen über Produkte des täglichen Lebens von Kinderspielzeug über Kosmetika, Haushalts­reiniger, Kunststoffe, Einrichtungsgegenstände etc. mit krank machenden Chemikalien kontaminiert. Die große Schieflage beim Einfluss von „modernen“ Lebens- und Ernährungsgewohnheiten und der Entstehung von Krebs­erkrankungen zu beleuchten, sprengt hier den Rahmen. Viele dieser Chemikalien, die wir auch in Lebensmitteln wiederfinden, sind bekannte Karzinogene oder als suspekt für eine mögliche Krebs verursachende Wirkung einge­stuft. Mehr als 300 dieser synthetischen, also künstlichen Chemikalien werden beispielsweise in der Muttermilch nachgewiesen.[3] Wer ist bereit, die tiefgehende Tragik, die dies bedeutet, weiterzudenken und nach Auswegen zu suchen? Medikalisierung von Frauen über erfundene Krankheiten (Beispiel Hormonersatztherapie und „Hormonmangelsyndrom“) haben Gesundheit und Leben von Frauen rücksichtslos gefährdet, und fragwürdige Ver­sprechungen wie „Anti-Aging“ mit „Hormonersatztherapien“ führen fundamentale medizinische Grundsätze seit Jahrzehnten ad absurdum.

Mit ihrer Aktion „The Big See“ (s. Foto oben) haben die britischen Organisationen Women Environmental Network (WEN) und die Gewerkschaft UNISON im Jahr 2005 damit begonnen, auf den Verschleiß der rosa Schleife hinzuweisen. Sie fordern seitdem offensiv dazu auf, die „rosa Augenbinde“ abzunehmen und die Ursachen von Brustkrebs in einem umfassenderen Kontext zu betrachten: „Nimm die rosa Augenbinde ab. Wenn du die Augen öffnest, bist du nicht mehr blind für die Zusammen­hänge zwischen Chemikalien, die mit der Entstehung von Krebs in Verbindung gebracht werden, und für steigende Brustkrebsraten sorgen. Werde aktiv!“ Helen Lynn, Her­ausgeberin der Broschüre zu Brustkrebs und Umwelt­belastungen, die mittlerweile in fünf Sprachen einschließ­lich einer deutschsprachigen Version (Die verkannte Gefahr: Brustkrebs und Umweltbelastung, pdf) vorliegt, stellt fest, dass Frauen verblendet werden, weil Brustkrebs immer noch als praktisch unvermeidliches Schicksal dargestellt werde. Sharon Greene von der britischen Gewerkschaft UNISON mit über 1,1 Millionen Frauen unter ihren Mitgliedern forderte bereits 2005 außerdem, dass Entscheidungsträger und Politik endlich mehr tun, um die Ursachen für mehr und mehr Brustkrebserkrankun­gen abzustellen.

Selbstschutz: Was Frauen selbst tun können

  • Sich nur aus unabhängigen, ungesponserten Quellen informieren.
  • Den Gebrauch von Kosmetika bis Putzmittel überdenken und “grüner” einkaufen. Mehr Infos dazu bieten bisher vor allem die Skin Deep Cosmetics Database oder das FemmeToxic-Projekt von Breast Cancer Action Montreal; entsprechende unabhängige Projekte und Datenbanken in deutscher Sprache fehlen bisher.
  • Beipackzettel, Inhaltsstoffe, Materialangaben genau kontrollieren. Umtauschen, wenn Produkte besorgniserregen­de Inhaltsstoffe enthalten. So kann man im Einzelhandel für Sensibilisierung sorgen und auch Händler informieren. Zukünftig solche Produkte beim Einkauf konsequent vermeiden.
  • Die kritischen Frauengesundheitsorganisationen wie z.B. den Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psycho­therapie und Gesellschaft e.V. unterstützen, damit Frauengesundheit mehr Priorität erhält.
  • Über PolitikerInnen und Behörden weiter Druck für gesunde Lebenswelten aufbauen. Es ist unser Leben!

[1] z.B. Aktion WEN Women Environmental Network und UNISON, der größten britischen Gewerkschaft mit über 1,1 Mio weiblichen Mitgliedern v. 03.10.2005 am College Green gegenüber den Houses of Parliament, wo Frauen mit rosa Schleife-Augenbinden diese symbolisch abnehmen, um zu zeigen, dass ihre Augen nicht verbunden sind angesichts der Arbeit der britischen Regierung und einem “Krebs-Establishment”, das die Zusammenhänge zwischen Umweltbelastungen und Krebs unter den Teppich kehrt. Die beiden Organisationen machten gemeinsam aufmerksam auf die Gefahren, die von gesundheitsschädigenden Chemikalien ausgehen, und forderten eine strengere Regulierung.

[2] Sulik, Gayle: Pink Ribbon Blues,OxfordUniversity Press 2011, S. 19

[3] s. dazu auch die BUND-Studie zu Muttermilch und Schadstoffbelastung (2005): Endstation Mensch: Über 300 Schadstoffe in der Muttermilch: Zeit für eine neue Chemikalienpolitik (pdf)

20 Kommentare zu „„Weg mit der rosa Augenbinde!“

  1. Ich habe multible Allergien oder Chemikaliensensiblität und rieche schlicht und einfach an den meisten Produkten, bevor ich sie kaufe. Dann hat sich vieles schnell erledigt, besonders Schuhe aus China und diverse Kunststoffartikel (auch Elektronik). Manche Dinge wie PC oder Möbel besorge ich mir am liebsten gebraucht.

    Medikalisierung von Frauen über erfundene Krankheiten (Beispiel Hormonersatztherapie und „Hormonmangelsyndrom“) haben Gesundheit und Leben von Frauen rücksichtslos gefährdet, und fragwürdige Ver­sprechungen wie „Anti-Aging“ mit „Hormonersatztherapien“ führen fundamentale medizinische Grundsätze seit Jahrzehnten ad absurdum.

    Die Hormonersatztherapie gegen Wechseljahresbeschwerden setzte Östrogen ein. Der aktuelle Modetrend ist aber natürliches Progesteron, das eher ein Östrogen-Gegenspieler ist. Ich denke, es ist zu früh, das zu bewerten. Wenn ihr schon Studien dazu kennt, würden die mich interessieren.

    Zum Begriff „Hormonersatztherapie“ – der wird zwar mit der Östrogentherapie assoziiert, doch medizinisch gesehen fallen da viele Therapien drunter, unter anderem auch die Behandlung mit Schilddrüsenhormonen, die m.E. eher zu zögerlich verschrieben werden.

    Der Nebenschauplatz Vitamin-D-Mangel ist möglicherweise nicht nur für die Knochen schlecht:
    http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&id=78328
    Ich fange demnächst mit meiner Winterdosis an, die ich mir selbst anhand meiner Laborwerte ausgetüftelt habe.

    Vielleicht auch interessant: Elisabeth Rieping.
    http://erieping.de/

  2. Einen hab ich noch:

    Ein Beispiel ist das geographisch sehr unterschiedliche Erkrankungsrisiko für Brustkrebs: In den Vereinigten Staaten erkranken mehr als sechsmal, in Deutschland fast fünfmal mehr Frauen an Brustkrebs als in Japan. Wenn Japanerinnen in die Vereinigten Staaten auswandern, ändert sich ihr niedriges Brustkrebsrisiko kaum. Das Risiko ihrer Töchter und noch mehr das ihrer Enkelinnen, an Brustkrebs zu erkranken, nähert sich jedoch dem hohen Brustkrebsrisiko amerikanischer Frauen an. In Europa findet man die meisten Brustkrebserkrankungen in den Niederlanden, in Dänemark, Finnland und Schweden. Deutschland nimmt im europäischen Vergleich einen mittleren Rang ein. Die niedrigsten Erkrankungsraten verzeichnen die südeuropäischen Länder Spanien, Griechenland und Portugal.

    Eine „einfache” Erklärung gibt es für diese regionalen Unterschiede nicht. (…)

    http://www.krebsgesellschaft.de/krebshaeufigkeit,11267.html

  3. Ich bin durch Barbara Ehrenreich auf die Pink-Ribbon-Kultur gestoßen. Sie steht dieser Kultur ablehnend gegenüber.

    Was mich daran abstößt:

    – Selbsthilfegruppen sind nicht länger ein Ort, wo Menschen Verantwortung für ihre eigenen Körper zurückfordern, sondern einer, wo sie sich gegenseitig informieren, was die gängigen medizischen Vorgehensweisen sind.

    – Frauen werden (laut Ehrenreich) vor allem in ihrer konventionellen Weiblichkeit (äußere Attraktivität) wahrgenommen. Sie sollen sich nicht davor fürchten, dass diese Attraktivität verloren gehen könnte.

    – Ein weiterer Punkt ist die Infantilisierung. (In einem Interview mit Barbara Ehrenreich, das ich leider nicht mehr finde, wurde ihr in einer „Willkommenstasche“ für eine Rehaklinik neben diversen Kosmetika auch Buntstifte geschenkt. Sie fragte, wofür sie die benutzen solle: „Vielleicht fühlen Sie ja in sich das Bedürfnis, etwas darüber aufzuschreiben, wie sie sich jetzt fühlen“ – und das zu einer professionellen Journalistin und Buchautorin, die zum Schreiben vor allem ihr Laptop benutzt.)

    – Der dritte Punkt ist die Heroisierung, und auf der anderen Seite der Vergleich mit Überlebenden etwa des Holocausts, indem diejenigen, die an Brustkrebs leiden, als „Survivors“ bezeichnet werden. Die diversen Therapien, denen sich die Patientinnen unterziehen (müssen), die sie also im wesentlichen erleiden und die ihnen Zeit nehmen, die sich auch arbeitend, lesend, denkend, für ihre Liebsten sorgend oder einfach das Leben genießend hätten verbringen können, werden zu einem „Kampf“ stilisiert. Dabei ist es in erster Linie Glückssache, ob die Therapien helfen oder nicht. (Ein Kampf kann durch eigene Geschicklichkeit gewonnen werden.)

    Was die Ursachen von Brustkrebs anbelangt, so fehlt mir eine: Strahlenbelastung, insbesondere Röntgenaufnahmen der Brust in jungen Jahren.

    Links zu Barbara Ehrenreich:

    Welcome to Cancerland

    http://www.barbaraehrenreich.com/hope.htm

    Not So Pretty in Pink: The Uproar Over New Breast Cancer Screening Guidelines

    Interview with Jon Stewart

    Smile or Die: The Tyranny of Positive Thinking

  4. Susanna:

    Selbsthilfegruppen sind nicht länger ein Ort, wo Menschen Verantwortung für ihre eigenen Körper zurückfordern, sondern einer, wo sie sich gegenseitig informieren, was die gängigen medizischen Vorgehensweisen sind.

    Das halte ich für einen Scheingegensatz (oder ich habe es missverstanden). Um Verantwortung für meinen Körper zu übernehmen, muss ich doch erst mal über die derzeit von der Medizin empfohlenen Therapien Bescheid wissen. Und gerade bei Krebs experimentiert man ja nicht so freestlye herum wie bei irgendeiner anderen Krankheit, an der man nicht so schnell stirbt.

    Irgendeine Pharma-PR möchte ich dabei nicht institutionell an Bord haben, aber das ist eine grundsätzliche Frage bei Selbsthilfegruppen.

  5. Okay, ich will nicht die Selbsthilfegruppen aus den Siebzigern idealisieren, die prinzipiell alle „Chemie“ ablehnten und sich nur auf „Natur“ konzentrierten. (Sie hatten allerdings auch ihre Verdienste.)

    Natürlich muss man sich um das kümmern, was in der Medizin der aktuelle Stand ist. Allerdings auch mit einem kritischen Auge – schließlich gibt es auch in der Medizin Kontroversen, und gerade bei Krebs gibt es noch nicht die eine unumstrittene Therapie – vor allem da die Sterblichkeit trotz aller Fortschritte immer noch hoch ist.

    Bei Ehrenreich habe ich den Eindruck gewonnen, dass es in den Pink-Ribbon-Gruppen nicht darum geht, Informationen kritisch zu sichten, sondern darum, sich gegenseitig „moralisch“ (genauer: emotional) zu stärken und ansonsten die Entscheidungen der Ärzte zu akzeptieren. (Vielleicht hätte ich das klarer sagen sollen: sich über gegenwärtigen Stand informieren ist nicht dasselbe wie alle Entscheidungen akzeptieren.)

    Und, ja: Manchmal ist es richtig, ärztliche Ratschläge in den Wind zu schlagen. Als junges Mädchen habe ich dies zweimal getan (gar nicht so einfach, wenn man nicht volljährig ist), und beide Entscheidungen waren richtig.

  6. Ah so, danke.

    Bei Ehrenreich habe ich den Eindruck gewonnen, dass es in den Pink-Ribbon-Gruppen nicht darum geht, Informationen kritisch zu sichten, sondern darum, sich gegenseitig “moralisch” (genauer: emotional) zu stärken und ansonsten die Entscheidungen der Ärzte zu akzeptieren.

    Kann es sein, dass das auch viel mit der US-Kultur zu tun hat? Ich erinnere mich an ein bekanntes Buch über sexuellen Missbrauch, in das ich irgendwo reingelesen hatte, da wurde die Leserin tatsächlich mit „Liebes“ angesprochen.

    Und, ja: Manchmal ist es richtig, ärztliche Ratschläge in den Wind zu schlagen. Als junges Mädchen habe ich dies zweimal getan (gar nicht so einfach, wenn man nicht volljährig ist), und beide Entscheidungen waren richtig.

    Ging aber nicht um Krebs, oder?

    So lange es nicht gefährlich ist, mache ich das auch dauernd – mein Hausarzt nennt mich schon „Schilddrüsenspezialistin“ und fügt sich in seine Assistentenrolle. Aber sobald es richtig ernst wird und Angst dazu kommt, helfen mir Coolness und Wissen längst nicht mehr so viel wie sonst.

  7. Nicht um Krebs, aber durchaus um mehr als eine Grippe. Mir wurde durchaus Angst gemacht mit ernsten Spätfolgen und Risiken. Alles nicht eingetreten.

    Ich hatte aber auch schon Zeiten, in denen ich nicht mehr cool und überlegt war.

    Wahrscheinlich ist die Pink-Ribbon-Kultur eher etwas Amerikanisches – für Barbara Ehrenreich ist sie vor allem ein Beispiel für Positives Denken, das sie vehement bekämpft. Vor allem ist es das Beispiel für Positives Denken, von dem sie selbst betroffen war. Andererseits hat so etwas die Eigenschaft, hier herüberzuschwappen.

  8. Ich weiß nicht genau was ich von dem ausgeprägten Hinterfragen von MedizinerInnen halten soll… Kommt für mich gerade so ein bisschen daher wie diese Impfkritik, die von ihren VertreterInnen oft mit einer unglaublichen Aufdringlichkeit verbreitet wird.

    Und dann erst dieser verschwörungtheoretische Anklang mit den Konzernverschachtelungen. Ganz ehrlich: Verlasst euch auf eure ÄrztInnen die IHR selbst kennt und euch ausgesucht habt und nicht auf sowas, denn das ist wirklich gefährlich. Sonst landet ihr am Ende bei Leuten die Krebs mit Vitaminpräparaten behandeln wollen. Oder Gummibärchen…

  9. Ich hätte noch einen feministisch unkorrekten Risikofaktor anzubieten: Übergewicht. Wenn Bauchfett zusätzliches Östrogen produziert, kann das wohl ähnliche Wirkungen haben wie Östrogen als Medikament.

    Umgekehrt nimmt man ja schon länger an, dass schlanke Frauen ein höheres Osteoporoserisiko haben, das hat wohl auch damit zu tun, dass weniger Östrogen vorhanden ist.

  10. Verlasst euch auf eure ÄrztInnen die IHR selbst kennt und euch ausgesucht habt

    Fachärztinnen kennt man ja nicht gut, die werden Dir zugeteilt. Bei Brustkrebs empfiehlt sich ein zertifiziertes Brustzentrum, und da kennst Du erst mal niemand.

    Dort kommt eine auch nicht unbedingt um eine eigene Entscheidung herum, wenn es Ermessensspielräume gibt. Ich war schon mal dort, weil ich sowas ähnliches wie einen Knoten getastet hatte (war kein Krebs). Im Nachhinein würde ich sagen, die Mammografie diente vor allem dem Sicherheitsgefühl der Radiologin, eigentlich hätte die Sonografie gereicht. Dann stand eben „dichtes Brustgewebe“ im Befund – in meinem Alter sieht man halt noch nicht viel per Mammografie, drum ist sie ja auch erst ab 45 oder 50 empfohlen. Aber man hat alles gemacht, damit alle Beteiligten beruhigt sind…

  11. Klaro, da kann es erstmal kein Vertrauensverhältnis geben. Ich bin jedenfalls dafür für Sicherheit zu sorgen und nicht so ein alternativmedizinisches Zeug von dieser Gayle Sulik zu verbreiten. Mir tut es um jede Frau leid die wegen solcher Texte auf das KOSTENLOSE Screening verzichtet und somit die Möglichkeit der Früherkennung verpasst, nur weil sie solchen „MedizinsoziologInnen“ aufgesessen ist.

    Passend zum Thema:
    „…Swantje Köbsell vom Bremer Netzwerk behinderter FrauenLesben kennt viele Rollstuhlfahrerinnen, die deshalb einen Frauenarzt nur zur Not aufgesucht haben, wenn sie Beschwerden hatten, nicht aber für Vorsorgeuntersuchungen. Bei manchen wurde deshalb ein Krebsleiden zu spät erkannt. […]“
    https://www.taz.de/BEHINDERUNG/!80123/

  12. @Nandoo:

    Verlasst euch auf eure ÄrztInnen die IHR selbst kennt und euch ausgesucht habt und nicht auf sowas, denn das ist wirklich gefährlich.

    Abgesehen von dem, was Irene sagt: Um dieses Vertrauen und die Einschätzung der Kompetenz und des Zu-mir-Passens aufbauen zu könne, braucht es Tools wie Wissen um den eigenen Körper und die eigene Gesundheit, medizinisches Wissen, Kenntnisse über das Gesundheitswesen, Ressourcen um Vergleiche anstellen und ggf. Wechsel vornehmen zu können etc. pp. Sind genau diese Tools nicht auch das Ergebnis des von dir kritisierten Hinterfragens?

    Ich bin jedenfalls dafür für Sicherheit zu sorgen

    Wie toll es wäre, wenn das ginge – ich befürchte nur, das funktioniert leider nicht. Weder auf „konventionellem“, noch auf „alternativem“ Wege. Ich finde es auch wenig hilfreich, die beiden Ansätze, die in der Praxis ja auch allerhand Schnittmenge haben und nicht immer so trennscharf abgrenzbar sind, hier jetzt gegeneinander in Stellung zu bringen. Auch kann es für die Nichtteilnahme an Vorsorgeangeboten vielfältige Gründe geben.

  13. Zur Klarstellung: Ärzten kritisch gegenüber stehen und nicht akzeptieren, was sie einem vorschlagen, ist nicht dasselbe, wie die Schulmedizin generell ablehnen.

    Ärzte sind keine Halbgötter in Weiß – ich dachte, das hätte sich mittlerweile herumgesprochen. Sie haben ihre Interessen, auch ihre wirtschaftlichen Interessen, vor allem aber haben sie durch ihre Berufsausbildung und ihre berufliche Sozialisation eine bestimmte Sicht auf die Welt und auf Menschen entwickelt. Diese hindert sie manchmal daran, Aspekte jenseits ihres Wirkungsbereichs wahrzunehmen oder für wichtig zu erachten.

    Man kann auch als Nichtmedizinerin lernen, Ärzte zu beurteilen, und dabei spielen auch nichtmedizinische Kriterien eine Rolle: Nimmt der Mensch mich ernst? Geht er auf meine Einwände ein? Kann ich Fragen stellen? Oder will er oder sie mich im Gegenteil manipulieren, oder umgekehrt mich beruhigen, so dass ich nur noch ihm oder ihr vertraue und keine Fragen mehr stelle? Gibt er widersprüchliche Informationen? („Ist nicht schlimm, was sie da haben, bestimmt nicht – aber kommen Sie in drei Monaten wieder, wir müssen es beobachten.“) Solche Kriterien werden oft als „weiche“ und „menschliche“ aufgelistet, wobei impliziert wird, dass ein menschliches A… ein hervorragender Arzt sein kann – ich zweifle allerdings, dass dies die Regel ist. Mein Verdacht ist, dass sich da jemand gegen Kritik schützen will.

    Um zum Thema Brustkrebs und Mammographie zurückzukommen: Ich habe schon öfter gelesen, dass es Studien gibt, die belegen, dass Mammographie-Reihenuntersuchungen die Brustkrebs-Sterblichkeit nicht senken konnten, unter anderem deswegen, weil Röntgen selbst wieder Krebs verursacht. Zum letzten Mal las ich darüber vor einigen Wochen in der Taz. Da wurde auch eine Ärztin zitiert, die die Leiterin von einem wichtigen Brustkrebszentrum ist. Sie reagierte auf die Studien mit den Worten „Es kann kein Zweifel bestehen, dass durch Mammographie mehr Krebs im Frühstadium entdeckt wird“ und „es gibt eben keine sofort sichtbaren Auswirkungen einer solchen Maßnahme“. Und da kann ich dann eben auch als Nichtmedizinerin sagen: Wenn jemand auf eine kritische Studie mit den Worten „es kann kein Zweifel bestehen“ reagiert, dann ist höchste Vorsicht angebracht.

    @Britta: Danke für den Link! Ich bin schon vor einer Weile (nach dem 11. März vermutlich) auf der Site der Gesellschaft für Strahlenschutz gewesen, und habe dort auch die 40-seitige Broschüre gefunden. Auch in dieser Broschüre wird erklärt, dass Strahlenbelastung in jüngeren Jahren deutlich schädlicher ist als bei älteren Frauen. (Einer der Gründe, warum Mammographien erst ab 50 angeboten werden: davor überwiegt das Risiko.) Allerdings finden sie, dass das Risiko für ältere Frauen unterschätzt wird, vor allem bei der Gruppe der genetisch prädisponierten Frauen. Im einzelnen kann ich das nicht beurteilen. (Ach ja, und Inge Schmitz-Feuerhake habe ich mal bei einem Vortrag in Bremen gehört.)

  14. Ich als (Brustkrebs-)Betroffene habe sehr viel Kontakt zu anderen (überwiegend auch Brustkrebs-)Betroffenen. Keine der betroffenen Frauen mit denen ich intensiven Kontakt habe, ist in einer Selbsthilfegruppe. Alle verstehen ihre Onkologen (lediglich?) als Berater und jeder entscheidet für sich selbst, welche Therapie gemacht wird oder eben nicht. Immer häufiger werden Therapievorschläge abgelehnt.
    Ich kenne sehr viele gut informierte Betroffene die mit ihren Ärzten auf Augenhöhe beraten und sich keine Therapien diktieren lassen. Ich sehe das als einen Fortschritt, durch Vernetzung und Austausch, überwiegend per Internet.
    Offene Augen, viel eigene Recherche, das Hinterfragen und Überprüfen von sogenannten Studien, all das ist, bei den mir bekannten betroffenen Frauen, Alltag.
    Der Zusammenhang von Chemie- Pharmaindustrie und veröffentlichten Studien ist keine Geheimnis.
    Die Zulassungs- und Rücknahme- entscheidungen -kriterien und -verhandlungen der entsprechenden Stoffe, kann mal recht gut recherchieren und verfolgen, wenn man das möchte.
    Lebensqualität und Therapieaussichten sind und bleiben eine Gratwanderung.

    Die breite Öffentlichkeit möchte nach wie vor, mit Krankheit, Siechtum, eben mit „nicht funktionieren“ möglichst nichts zu tun haben, nicht damit konfrontiert werden und schon gar nicht darüber nachdenken.
    Mit dem Ende der Grossfamilie entstand ein klares Konzept:
    Kinder kommen in Krippen, Behinderte in Werkstätten, Kranke in Krankenhäuser, Sterbende in Hospize, Alte in Altenheime…………………. aus den Augen, aus dem Sinn.

  15. Ich freue mich, dass in diesem Artikel endlich auch mal die soziale/finanzielle Situation zur Sprache kommt. Auch das gehört zu den Umweltbedingungen, die im für das Überleben (hört sich krass an, ist auch so) wichtig sind! Gerade beim Thema Brustkrebs denkt man oft an eine bestimmte Zielgruppe, nämlich Frauen ab 55. Aber wie geht es eigentlich jungen Menschen, die in der Regel noch nicht abgesichert sind? Wie viele Studenten/Schüler/Auszubildende gibt es mit einer solchen Erkrankung? Es ist tatsächlich so, was am Ende übrig bleibt, ist Hartz IV. Kranke Studenten beispielsweise verlieren ihren Anspruch auf Bafög, weil ihnen unterstellt wird, sie seien nicht mehr studierfähig. Mit Hartz IV kann man aber auch nicht studieren. Wieso gibt es noch keine Fonds für Betroffene, die helfen, finanzielle Engpässe, die durch die Krankheit entstehen, zu überbrücken? Wieso brauchen Brustkrebspatientinnen Schminkkurse? (ok, das war jetzt etwas polemisch). Das sollte nur mal eine Lanze für alle brechen, die auch von der Charity-Maschinerie nicht berücksichtigt werden. Ein Internetforum, in dem sich junge Patienten austauschen können, gibt es meines Wissens auch nciht. Auf deutsch gibt es die üblichen Foren für die Musterzielgruppe. Ich bin „nur“ im englischsprachigen Bereich fündig geworden und kann planet cancer empfehlen. Ist ein Scheißgefühl, wenn man trotz so viel Aufsehen am Ende doch allein mit dem Schlamassel ist.

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