Vom Mythos der „unverdienten“ Privilegien

Ich schrieb vor wenigen Tagen einen sarkastischen Post zu Privilegien, garniert mit ein paar Hashtags (Schlagwörtern), die illustrieren sollen, was an Vorannahmen, die hinter Argumentationen, die für oder gegen eine Auseinandersetzung mit Privilegien sprechen, problematisch ist. Da der Post sehr dicht ist und sich vielleicht nur jene angesprochen fühlen, die sich schon länger über die Thematik Gedanken machen, möchte ich nun eine Sache aufgreifen: Die Idee, dass Privilegien „unearned“ (unverdient) sind.

Wenn ich mit Personen ins Gespräch komme oder Texte lese, in denen sich kritisch mit Privilegien auseinandergesetzt wird (nicht im Sinne von: Nein, es gibt sie nicht), ist oft davon die Rede, dass Menschen in privilegierten Positionen „nichts dafür können“ oder nichts aktiv dafür getan haben, dass sie Privilegien besitzen. Bemerkenswerterweise wird dieser Topos oft auch bei jenen ins Spiel gebracht, die keine Notwendigkeit darin sehen, sich kritisch mit ihren eigenen Privilegien auseinander zu setzen.

Peggy McIntosh spricht in ihrem bekannten Artikel zu weißen Privilegien von einem „invisible knapsack“ , einem unsichtbaren Rucksack, den weiße in Bezug auf Rassismus mit sich herumtragen. Der Artikel ist gespickt mit einer Aufzählung, an welchen Stellen diese Privilegien zum Tragen kommen, Bedeutung erlangen. Der Artikel ist sehr handlungsfokussiert, was ich gut finde, allerdings impliziert er, dass durch Unterlassen oder Interventionen in diese Wahrnehmbar-Werdungen von Privilegien diese abgelegt werden können. Die Metapher des Rucksacks impliziert weiterhin, dass Privilegien etwas sind, was ich als weiße Person mein Leben mit mir herumtrage, bis ich mir diese bewusst mache, etwas „dagegen“ tue und so meinen Rucksack (zeit-/phasenweise) absetzen kann. Ebenso problematisch an dieser Metapher ist, dass der Rucksack an Bürde erinnert, etwas, das mir aufgebürdet wird, Privilegien, die „schwer wiegen“, und derer ich mich befreien muss/kann/sollte, um … ja was … eine gute/antirassistisch handelnde weiße Person zu werden? Die Rucksack-Metapher spielt ebenso mit dem Bild des „Unverdienten“ wie mit dem Bild der „schweren Last“ mit dem Ziel eines „Release“, einer Befreiung von Privilegien in Bezug auf antirassistisches Handeln von weißen Personen.

Privilegien werden nicht nur in McIntoshs Text mit Negativität und Unproduktivität (im Sinne von: mein Rucksack erschwert mir ein Vorankommen) be_deutet. Dahinter steckt die Vorstellung eines christlich geprägten Menschenbildes, welches Menschen in gute und schlechte einteilt. Menschen, die sich an bestimmte Vorgaben halten und danach handeln, erleben eine Befreiung ihrer Schuld, sie „sühnen“ nicht nur für ihre eigenen „schlechten“ Taten, sondern auch für die aller anderen. Privilegien kommen hier einer Kollektiv“schuld“ aller weißen gleich. Im Sinne eines „Buße tuns“, also dem Entgegen-Handeln von Privilegien, können sich weiße von dieser „Schuld“ befreien.

Interessant an diesen Be_Deutungen von Privilegien ist weiterhin, dass das Erlangen von Privilegien mit Passivität gleichgesetzt wird. Privilegien werden mir als weiße Person von einer unbekannten, un_personifizierten Instanz (in diesem Falle Rassismus) „aufgebürdet“. Auch hier kommt das „Unverdiente“, das „Nichts dafür können“ in Spiel.

In Teilen postkolonialer Literatur wird sich häufig mit der Metapher des „white men’s burden“ (Die Bürde des weißen Mannes) auseinandergesetzt. Die Bürde des weißen Mannes beschreibt als Metapher den imperialen Gestus hinter kolonialer Gewalt und Expansion und soll verdeutlichen, dass weiße sich im Zuge von Kolonisierung als die „Zivilisierten“, „Kultivierten“, als über die „Gewalt“ der Natur, des „Rohen“ erhabenen, schlicht als die Über-Menschen begreifen. Weiße sahen es als ihre Aufgabe oder eher Bürde an, Menschen, die sie als nicht „zivilisiert“, nicht „kultiviert“, als der Natur nahestende, „rohe“, „barbarische“ Völker konstruierten, die nicht nach ihren Vorstellungen von „Menschsein“ leben zu „zivilisieren“. Mit kolonialer Gewaltherrschaft würde eine Befreiung von dieser „Bürde“ erfolgen. Imperialistisches Bestreben und gewaltvolle Kolonialisierung, Genozid und Unterdrückung anderer wurde von weißen quasi als unabdingbare, unvermeidbare Handlung aus einer „Bürde“ (Passivität) heraus verharmlost und nicht als aktiver, von weißen Allmachtsfantasien und rassistischen Ideologien getriebener Vorgang vorgestellt. Auch heute noch geschehen rassistische Handlungen aus dieser Motivation heraus.

Wenn ich mir als weiße Person Privilegien also als etwas „Unverdientes“, mir „Aufgebürdetes“ vorstelle, dann erneuere ich dieses Bild des Passiven, des „unverdient“ „Schuld“haften. Ich erneuere ein Bild, das weiße Menschen per se als „gute“ Menschen deklariert, auch wenn sie sich ihrer Privilegien nicht bewusst sind, nicht damit in Auseinandersetzung treten. Ich erneuere ein christliches weißes Menschenbild, mit dem koloniale Gewaltherrschaft legitimiert und verharmlost wurde und wird. Privilegien „ablegen“ oder „abgeben“ (an wen?) werden hier zu einer „märtyrerhaften“, altruistischen Handlung.

Rassismus hingegen fungiert weiterhin als ungreifbares, unvorstellbares „Ungetüm“, mit dem ich als weiße Person nichts zu tun habe, das über mir schwebt, wie ein Damokles-Schwert und nur darauf wartet, auf mich herabzusinken, wenn ich nicht schnell genug meine Privilegien bewusst mache und sie ablege. Ich stelle mich nicht vor als aktive Person, die Rassismus immer auch wieder durch Handlungen gewaltvoll normalisiert und reproduziert, die Rassismus nutzt, um voranzukommen und aus Rassismus einen Nutzen, eine Aufwertung, ein Vorankommen erfährt – auf struktureller und ganz individueller Ebene. Ob mit oder ohne Rucksack, ob mit oder ohne antirassistisch(en) (gemeinten) Handlungen.

Rassismus ist ein Konstrukt, das von weißen erfunden wurde, um Menschen ohne „schlechtes Gewissen“ (im Sinne von: keinen Widerspruch zur christlichen „Nächstenliebe“ wahrzunehmen) zu unterdrücken, auszubeuten, zu töten und an ihnen Gewalt auszuüben; ja um aus der Unterdrückung von all jenen, die rassifiziert wurden und werden, einen Nutzen, eine Aufwertung des Selbst zu erfahren und das weiße Selbst mit weißen Privilegien auszustatten.

Rassismus ist eine aktive Handlung, auch dann, wenn Rassismus strukturell wirkt. Rassismus reproduziert sich nicht von „allein“ oder „einfach so“. Es sind immer Menschen, die diese Strukturen aufrecht erhalten, erschaffen oder nicht dagegen ankämpfen. Rassismus wirkt über-individuell. Die häufig verwendeten Be_Deutungen des Privilegien-Begriffs implizieren, dass ich mich als weiße Person durch bestimmte Handlungen von Rassismus befreien kann. Und dass ich Menschen, die von Rassismus betroffen sind, einen Teil meiner Privilegien abgeben könnte, so dass sie „auch was davon haben“. Wie nett von mir.

Doch was passiert nach der Rast, die ich mir vom schweren Rucksack schleppen gegönnt habe aka meine Privilegien abgestreift habe? Ich nehme diesen Rucksack immer mit aka ich als weiße Person profitiere immer von Rassismus, auch wenn ich es nicht will, auch wenn ich aktiv etwas dagegen tue. Und im Gegenteil, er macht mich nicht schwer dieser Rucksack, sondern leicht und erleichtert mein Vorankommen. Ich kann ihn nicht absetzen. Er ist auch nicht ein Teil an mir, sondern von mir. Den Rucksack gibt es nicht.

Wenn ich mir Rassismus als ein Ungetüm, als etwas Nicht-Greifbares und Privilegien als einen „unverdienten“, mir „aufgebürdeten“ Rucksack vorstelle, verleugne ich meine Handlungs- und Definitionsmacht, die ich als weiße Person in Bezug auf Rassismus immer innehabe. Ich konstruiere mich damit auch ein bisschen als Opfer (Opfer werden häufig als unselbstständige, passive Personen ohne Selbstbestimmung vorgestellt) und verharmlose damit nicht nur die Diskriminierung, die Personen erfahren, die von Rassismus betroffen sind (und mache gleichzeitig deren Agency und Subjektstatus unsichtbar), sondern auch Rassismus selbst. Weil Rassismus nicht alle Menschen als Opfer und handlungsunfähig hervorbringt, sondern unterschiedliche Lebens- und Erfahrungswelten, die mit Diskriminierung und Privilegierung verbunden sind.

Es geht nicht um Schuld, es geht nicht um Sühne, es geht nicht um mein schlechtes Gewissen, es geht nicht um Befreiungshandlungen (hier: wer ist dann mein Referenzrahmen für meine Handlungen? Ich als weiße Person) Es geht nicht um „Mit- oder „Reinfühlen“ in rassistische Erfahrungen, in dem ich in gebückter Haltung den Inhalt meines Rucksacks nach und nach entleere und all das „Unverdiente“ aus meinen Leben werfe, weil ich mich danach besser, leichter und weniger rassistisch handelnd fühle. Schon gar nicht geht es um meine weißen Gefühle. Oder um meine Vorannahmen, meine Privilegien könnten für Menschen, die sie nicht haben, stets interessant und begehrenswert sein.

Weiterhin problematisch an dieser Rucksack-Metapher oder den Be_Deutungen von Privilegien genereller ist, dass Personen, die von Rassismus betroffen sind, gar nicht vorkommen. Haben sie auch einen Rucksack? Ist der sichtbar? Können sie den ablegen? Geht es tatsächlich nur um die Abgabe von Privilegien (an wen?) und dann ist alles gut? Rassismus zu Ende? Was sind die Vorstellungen von und vom Kämpfen, antirassistischen Handlungen, Gesellschaftsentwürfe, Utopien von Menschen, die von Rassismus betroffen sind? Können mit dem Privilegienbegriff allein gar nicht erfasst oder in eigenen Handlungen mitgedacht werden. Das Bearbeiten von eigenen Privilegien kann ohne Solidarität, Bündnisse und Zusammenarbeit erfolgen, ohne die Ideen, Gedanken und Handlungen derer, die von Rassismus betroffen sind.

Es geht um Verantwortungsübernahme, wenn ich als weiße Person gegen Rassismus kämpfe. Verantwortung übernehmen heißt zum Beispiel: sich aktiv gegen Rassismus zu stellen, wann immer ich ihn wahrnehme. Auf vielfachen Wegen: in Gesprächen mit Freund_innen, in sozialen und_oder familiarisierten Zusammenhängen, am Arbeitsplatz, in der Uni, in der Ausbildung, in öffentlichen Räumen, in Behörden. Verantwortungsübernahme heißt für mich als weiße Person auch, über Privilegien hinaus zu gehen, Lebensrealitäten, die nicht meine sind, wahrzunehmen, anzuerkennen, zuzuhören, wahrzunehmen, Gespräche oder Zusammenarbeit zu suchen (ohne enttäuscht zu sein, wenn sie aus verschiedenen Gründen verwehrt werden, sondern daraus andere Handlungen abzuleiten), Auseinandersetzungen einzufordern, mich nicht nur für Repräsentation, sondern auch für Partizipation einzusetzen (auch wenn es bedeuten kann, dass ich meinen Platz freimachen muss), Räume zu er_öffnen, eigene Wohlfühl- und Komfortzonen zu verlassen oder aufzugeben, mich nicht von Kritik befreien zu wollen, sondern kritikfähig zu bleiben, Widersprüche und Unwohlsein auszuhalten und versuchen, einen produktiven Umgang damit zu finden, statt zu verharren, dazu zu lernen, mich nicht als „fertige_n“ Antirassist_in zu begreifen. Nicht einfach nur bestimmte Dinge zu „unterlassen“, sondern aktiv Dinge zu tun. Und noch ganz viele andere Sachen, die in einer Privilegien Check List wie der von Peggy McIntosh niemals vorkommen werden oder ich nicht durch Überlegen oder Austausch mit anderen weißen auf den Schirm bekomme.

12 Kommentare zu „Vom Mythos der „unverdienten“ Privilegien

  1. Vielen Dank für diesen super Text, Nadine.

    Ich hatte ihn bereits auf Medienelite angefangen zu lesen – eben könnte ich ihn zu Ende lesen und ich wollte schnell mal kommentieren als eine Schwarze Britin, die in Deutschland lebt.

    Der Text spricht mir aus der Seele, ich fürchte allerdings für vielen wird es immer noch nicht angekommen, weil Personen hierzulande sich wieder und immer wieder sich um die „Schuld“ frage drehen. Und auch anscheinend echte Probleme kriegen, wenn sie das Gefühl haben, jemensch würde ihre Freiheiten eingrenzen wollen.

    Darum möchte ich diesen Artikel nochmal mit einer kleinen Anekdote aus meiner priviligierten Position als Hetera unterstützen.

    Ich führe eine Betrennziehung mit einem Mann den ich sehr liebe :-)

    Neulich liefen wir Händchen haltend durch die Gegend. Ich merkte an, dass wir uns gerade unsolidarisch verhalten. Da wollte er mehr wissen. Ich erzählte ihm von einem Artikel (den ich leider gerade nicht finde) wo es darum ging, dass Heten ihre Beziehungen inszenieren und bestimmte Bilder in der Gesellschaft aufrechterhalten, wovon wir profitieren und andere leiden. Es wäre nicht ganz so leicht für zwei männliche gelesene Personen beispielsweise die Straße sowie wir Händchen haltend runter zu laufen.

    Wir hatten einen sinnlosen Austausch über die Tatsache, dass es in Berlin doch ok wäre (Derailing!) bevor er mir zugab, als er Single war, und es ihm ganz schlimm (im Sinne von Selbstmordgefährdet) ging weil er so einsam war, dass es ihm wirklich schmerzen hingefügt hat, Paare zu sehen zu müssen, wie sie in der Öffentlichkeit ihre Liebe inszenierten.

    Dann kam aber die Frage: „Aber wo ist die Grenze?“ Da hatte ich so einen Facepalm-moment, den ich glücklicherweise unterdrucken konnte. Es geht da nicht um Verbote oder Schuld oder Grenzen ziehen. Es geht erstmal um Hinschauen und Bewusstwerden.

    Ich bin der Meinung: Diskriminierung ist Handlung. Und wir haben alle unsere Teil darin. Ich bewege mich als Hetera in einer Welt die mich stark bevorzugt und überbewertet. Ob ich das möchte oder nicht. Ob ich dies öffentlich performe oder nicht. Dennoch kann ich mich darüber bewusst machen und ich kann an diese kleine und große Performances denken – und hoffentlich auch schrauben – damit ich meine Solidarität äußern kann, für die Personen die eben diese Privilegien nicht genießen.

    Natürlich kann ich auch mehr machen. Es ist keine „entweder“ „oder“ – sondern ein ständiges Prozess von wachsam sein.

    Und jetzt sehe ich erst, dass Anna-Sarah bereits all das geschrieben hat – nur viel besser: http://maedchenmannschaft.net/hat-jemand-knutschverbot-gesagt-critical-hetness-101/

    Danke auch an diese Stelle dafür Anna-Sarah :-)

  2. Ganz provokant stellt sich dann aber konsequenterweise die Folgefrage: Warum sollten Inhaber_innen von Privilegien Verantwortung übernehmen und so handeln, wie im letzten Absatz vorgeschlagen?
    Eine andere Antwort als „weil es moralisch richtig ist“ fällt mir darauf nicht ein; womit ich aber unweigerlich dann an die Grenzen stoße, wenn ich erklären sollte, woraus sich die im Beitrag erwähnte Verantwortung herleitet.

  3. @schwertlilie

    es gibt für Menschen in privilegierten Positionen ganz unterschiedliche Gründe, Verantwortung zu übernehmen:

    – „weil es moralisch richtig ist“
    – Empathie / Mitgefühl
    – Analogien zu eigenen Diskriminierungserfahrungen (auch wenn die Analogien sich nicht immer widerspruchsfrei ziehen lassen)
    – sich selbst besser fühlen
    – schlechtes Gewissen
    – Wunsch nach Anerkennung (eigener aktivistischer „Leistung“ / eigener politischer Perspektiven)
    – Überzeugung
    – etc.

    Alle diese Gründe können in verschiedenen Situationen und_oder kombiniert das eigene Handeln motivieren. Ich stelle im Text keine Wertung über diese Gründe auf, weil es bei Antidiskriminierung letztlich auch um Handlungsfähigkeit geht und wenn Menschen sich aus diesen Gründen „bereit“ denken, Verantwortung zu übernehmen und daraus Taten folgen zu lassen, warum nicht? Was ich versuche zu zeigen ist, dass all diese Gründe a) auf einer sehr individuellen Ebene bleiben und damit strukturelle Dimensionen von Diskriminierung kaum erfassen oder mitdenken können und so ins eigene Handeln einfließen, b) ausblenden, dass ich auch aus vermeintlich „guten“ Gründen heraus Diskriminierung re_produzieren kann, c) trotz vermeintlich „guter“ Gründe und sich daraus ableitenden Handlungen ich bspw. als weiße Person in Bezug auf Rassismus immer in einer Machtposition bin, die strukturell und_oder in einem breiteren Kontext Vorteile und Privilegien genießt, d) durch die „Ich“-Zentrierung (was sind meine Gründe? Welche Privilegien habe ich?) als Bezugsrahmen für bestimmte Handlungen mich selbst zur Instanz mache, die darüber entscheidet, wann und in welchem Kontext sie welche Handlungen tätigt und ob diese Handlungen jetzt diskriminierend sind oder nicht.

    a-d) können dazu führen, dass Kritik an meinen Handlungen Unverständnis, Schuld, Scham, Starre, Rückzug und Abwehr auslösen und ich so mein Selbst und meine Gefühle wieder als Maßstab dafür setze, ob und wie ich Verantwortung fasse und übernehme. Diskriminierung und die Forderungen/das Empowerment/die Partizipation und Repräsentation von Betroffenen geraten erneut in den Hintergrund.

    Moral ist für mich kein Grund Verantwortung zu übernehmen. Moral ist ein (ebenso christliches) Konzept, das sehr individuell gedacht ist und von einem genuin „guten“ (ergo: „menschlichen“) Kern von Menschen ausgeht, dass es „moralische“ und „unmoralische“ Handlungen gibt (und nichts dazwischen und wer entscheidet darüber, was „moralisch/unmoralisch“ ist?). „Menschlichkeit“ und damit im Zusammenhang „Moral“ sind als Konzepte so positiv besetzt und normalisiert, dass sie kaum hinterfragbar sind und nicht erklären können oder verharmlosen, warum und dass _trotzdem_ Gewalt und Diskriminierung passieren. Zudem wurde und wird nach wie vor mit „Moral“ argumentiert, wenn es darum geht, Menschen und sozialen Gruppen den Zugang zu Ressourcen und Anerkennung ihres Status als selbstbestimmt handelndes Subjekt zu verwehren. Es ist unmoralisch, dass schwule und lesbische Paare Erziehungsarbeit leisten. Es ist unmoralisch, dass beispielsweise Frauen über ihren Körper bestimmen (Abtreibung, Sexualität, etc.). Gewalttaten sind „unmenschlich“, ungeachtet der Tatsache, dass es Menschen sind, die diese Taten verüben und diese Menschen keine Monster sind, sondern Entscheidungen treffen aus Gründen, die sie für „menschlich/moralisch/richtig“ halten und diese Taten auch auf gesellschaftliche Anerkennung treffen (und deshalb legitimiert werden). Es ist unmoralisch Menschen uneingeschränkten Zugang zu den Reproduktionstechnologien zu verschaffen, die ihnen mehr Selbstbestimmung liefern können, aber nicht unmoralisch den Zugang lediglich zu solchen Reproduktionstechnologien zu öffnen, die „lebenswertes“ (also für die Gesellschaft „nützliches/verwertbares“) Leben reproduzieren. Das Konzept von „Moral“ appelliert nicht an die Verantwortung von Menschen, sondern teilt auf der Grundlage von Machtpositionen in „gute“ und „schlechte/keine“ Menschen und Handlungen ein und das zum Teil sehr willkürlich. „Moral“ bietet zudem immer das Potenzial mich selbst zu einem „guten“ Menschen zu erheben und mich von anderen abzugrenzen, deren Handlungen ich „unmoralisch“ bewerte. Es verschleiert meine Verstrickungen in Diskriminierungsverhältnisse und hat daher wenig mit Verantwortung zu tun.

    Letztlich wäre meine Fragen an dich: Warum muss Verantwortungsübernahme überhaupt einen Grund/eine Motivation haben? Warum kann Verantwortungsübernahme kein Wert an sich sein?

  4. Aber die Gründe, die grad genannt wurden für solidarität werden doch immer wieder als akzeptierte Begründungen abgelehnt, lächerlich gemacht usw. deine antwort impliziert aber auch, dass menschen, die etwas mit moral begründen, etwas falsch machen, oder. Bist du sicher, dass du selbst dem auskommst, etwas zu bewerten als falsch und richtig? wenn jemand was aus moral macht und sich dann tollt fühlt ist das doch eine win win situation. warum soll man sich niemanden überlegen fühlen dürfen, solange man bedenkt, dass der andere seine gründe hat sich vielleicht einem selbst überlegen zu fühlen?

  5. @Nadine: Das Thema ist schwierig. Der Begriff „Verantwortung“ setzt aber schon ein bestimmtes Wertesystem voraus, Verantwortung kann ich nur tragen, wenn ich für etwas verantwortlich bin, also eine Pflicht trage. Und diese Pflicht muss sich irgendworaus ableiten lassen. Wenn die Moral nicht als Anknüpfungspunkt genommen wird, weiß ich nicht, was sonst. Wenn ich davon ausgehe, dass Ethik und Moral die Suche nach einem „richtigen“, „wünschenswerten“ Verhalten innerhalb der Gesellschaft sind, du die Moral aber als Konzept ablehnst und sagst, so etwas wie Moral gäbe es nicht, ist nicht erklärbar, warum jemand, dem es in diesem System aufgrund der eigenen Privilegien gut geht, das eigene Verhalten zu Gunsten anderer reflektieren und anpassen sollte.

    Vielleicht verstehe ich dich nicht richtig, aber für mich bleiben Begriff und Umfang der Verantwortung inhaltslos, wenn nicht klar ist, woraus sich die Verantwortung ergibt (und damit in letzter Konsequenz auch nicht, worauf und wie weit sie sich erstreckt).

  6. @schwertlilie

    ich versuche in meinem text dinge wie „richtiges“ verhalten zu kritisieren, weil es darum nicht geht. weil ein mensch nicht alles „richtig“ machen kann, weil es beim kampf gegen rassismus auch nicht darum geht, dass ich als weiße Person gegen Kritik immun werde, weil ich alles „richtig“ mache. allein, weil das machtverhältnis rassismus mich als weiße überindividuell positioniert, unabhängig meiner handlungen.

    verantwortung setzt für mich kein wertesystem voraus, außer, dass ich es für möglich erachte, sich gegen diskriminierung einzusetzen, ganz unabhängig, ob ich das persönlich für mich begründen kann oder nicht. klar, auch ich finde für meine handlungen eine persönliche motivation. die ist bei mir, dass ich mich als feministische aktivistin begreife, die keinen sinn dahinter sieht, „sexismus only“ als grundlage ihrer politik zu begreifen. diese motivation habe ich mir zunächst über die gründe erschlossen, die ich im vorherigen kommentar auch nannte und später gemerkt, wie hemmend diese gründe dafür sind (auch bei kritik) verantwortung zu übernehmen und entsprechend handlungsfähig zu bleiben.

    ich brauche keine ich-bezogenen und verharmlosenden und teilweise gewalt legitimierenden konzepte wie ethik oder moral für meine handlungen. ich habe ja bereits begründet, warum ich einen blick über die eigene motivation hinaus für wichtig erachte. der bezugsrahmen in deinem kommentar ist weiterhin: „andere privilegierte brauchen gute gründe, um überzeugt zu werden“ – mein argument geht in die richtung, dass auch „moralische“ gründe bisher noch keine_n von verantwortung überzeugt haben, die diese auch nicht übernehmen _wollen_. Wie du andere versucht zu überzeugen, kannst du ja für dich selbst entscheiden, ebenso worin deine motivation liegt. ich versuche lediglich aufzuzeigen, worin fallstricke liegen, wenn es zu sehr um dich oder andere privilegierte oder ausschließlich um privilegien kreist.

    zu deinem letzten satz: genau das ist es doch, was ich meine. ich gebe im text beispiele dafür, wie verantwortliches handeln aussieht und du möchtest eine allumfassende antwort, eine wegbeschreibung, eine checkliste zum abhaken, einen guten grund, einen schubser in die „richtige“ richtung. du möchtest, dass ich vorgebe, was richtig und falsch ist. damit du keine fehler machst? damit du „guten gewissens“ handeln kannst und dich dabei sicher fühlst? genau darum geht es eben nicht und ich kann dir nicht sagen, was DU machen sollst. ich mache vorschläge, was du davon umsetzen magst/kannst/sollst, ist dir überlassen. und mit kritik ist immer zu rechnen. in bezug auf rassismus gibt es unendlich viele stimmen, analysen und vorschläge, bewegungsgeschichte, gerade auch von betroffenen erzählt. ich finde darin ganz viel möglichkeiten und orientierung für mein handeln.

    @kersolq

    das habe ich bereits beantwortet in meinem ersten kommentar an schwertlilie.

  7. Für mich macht es Sinn den Anfangspunkt zu setzen mit „Ich möchte für meinen Anteil am Rassismus Verantwortung übernehmen“. Es ist für mich auch sinnvoll zu überlegen was meine Motivation ist. Ich stimme dir zu, es gibt nicht eine richtige/gute Motivation.

    Auf Grund unterschiedlicher Motivationen und anderer Aspekte, zum Beispiel Wissensstand, werden wahrscheinlich nicht immer alle zusammenarbeiten können.

    Danke für die Ausführungen zu vorherrschenden Bildern – stößt bei mir was an.

  8. Interessanter Text!
    Ich habe das mit den „unverdienten Privilegien“ bislang so verstanden, dass sie mir eben nicht zu Recht zustehen, sondern ich mich mit ihnen auf vielfältiger Ebene auseinander setzen und sie reflektieren muss.

    „(…) Ich bewege mich als Hetera in einer Welt die mich stark bevorzugt und überbewertet. Ob ich das möchte oder nicht. Ob ich dies öffentlich performe oder nicht. Dennoch kann ich mich darüber bewusst machen und ich kann an diese kleine und große Performances denken – und hoffentlich auch schrauben – damit ich meine Solidarität äußern kann, für die Personen die eben diese Privilegien nicht genießen. (…)“

    (von MsRepresented)

  9. Ich möchte mich mit nun mehr als zwei Wochen Abstand auch noch mal herzlich bedanken. Einschließlich deiner Worte in der Kommentarspalte, Nadine, hat dieser Artikel einiges in mir umgewälzt was Moral angeht. Großes Danke.

  10. Natürlich kann man nichts für Privilegien, aber es sollte erwartet werden können, kritisch zu reflektieren, inwiefern ich durch Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orienteriung, Religionszugehörigkeit ect. Vorteile genieße, die marginalisierte Gruppen nicht genießen.
    Ich bin eigentlich hauptsächlich auf englischsprachigen Feminismusblogs unterwegs, da lautet eigentlich jeder dritte Kommentar „Check your priviledge“. Diese Prinzip hilft auch, intersektional zu arbeiten

Kommentare sind geschlossen.

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