Über das An- und Aberkennen von (Erfahrungs-)Wissen.

Wer redet wie viel? Wie oft? Wie lange? Worüber? Wem wird zugehört? Wer wird ernst genommen? Wem wird Kompetenz zugesprochen? Wer wird übergangen? Kleingeredet? Zum Schweigen gebracht?

Wer diese Fragen im Hinterkopf behält, wird mit der Zeit feststellen, dass bei den Antworten darauf ein Muster zu erkennen ist. Egal ob im Fernsehen, beim Treffen mit Freund*innen, auf dem Plenum oder im Seminar. Dass es stets Menschen mit ähnlichen gesellschaftlichen Positionierungen sind, die reden, denen zugehört wird und die für kompetent gehalten werden. Und dass das alles irgendwie mit Macht und Privilegien verknüpft ist.

Ein Beispiel aus der Wissenschaft: Der Sozialpsychologe Philip Goldberg hat 1968 ein Experiment durchgeführt, bei dem er einer Gruppe von Studierenden eine Reihe identischer Aufsätze vorlegte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die eine Häfte der Ausätze mit einem weiblichen (Joan T. McKay), die andere Hälfte mit einem männlichen Vornamen (John T. McKay) unterschrieben war. Obwohl abgesehen von dem Vornamen keinerlei Unterschiede vorhanden waren, wurden die Aufsätze mit dem angeblich männlichen Autor durchweg als besser bewertet.

Seitdem ich die oben genannten Fragen im Hinterkopf behalte, habe ich unzählige ähnliche Situationen in meinem Alltag beobachten müssen. Oftmals werden Beiträge von Frauen* „überhört“, nur um drei Sätze später von einem Cis-Mann als eigene Idee ausgegeben und daraufhin von der gesamten Gruppe anerkannt zu werden.

Doch dieses bewusste überhört werden passiert nicht nur Frauen*. Es passiert den meisten Menschen, die aus dem Schema männlich, weiß, bürgerlich, heterosexuell, körperlich unversehrt herausfallen. Ihr Wissen wird regelmäßig übergangen und erst dann als Wissen anerkannt, wenn weiße Männer* bei einem Experiment, einer Studie oder im Selbstversuch zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen.

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Journalist Günter Wallraff. 2009 lebte er mehrere Monate als angemalter Weißer. Die Absicht dahinter: die Rassismuserfahrungen, die Schwarze in Deutschland machen müssen, aufzuzeigen. Kritik erntete er für diese „Reportage“ unter anderem von Noah Sow. Sie antworte in einem Interview mit der Tagesschau auf die Frage, ob sie die Erfahrungen, die Wallraff als Schwarzer beschreibt, überraschen würden, sehr treffend: 

Überraschen? Nein. Woher? Ich bin ja schon länger schwarz als Wallraff. Und das Gott sei Dank auch noch wenn Karneval vorbei ist. […] People of Color in Deutschland wissen das alles schon seit Jahrhunderten. In der Bücherei, bei Jahresberichten von Antidiskriminierungsbüros, erreichbar mit einem Klick im Internet: Überall ist Wissen über Alltagsrassismus präsent. Weiße müssen nur aufhören, dieses Wissen zu ignorieren oder anzuzweifeln oder […] zu relativieren.

Aktuell werden bei dem Privatfernsehsender RTL ähnliche „Experimente“ ausgestrahlt. Der Reporter: wieder mal ein weißer Mann. Die Themen: Alkoholmissbrauch, Armut, Alter und „das Leben als Frau“. Ein weiterer Versuch eines privilegierten Menschen, sich schmerzhaftes Erfahrungswissen zu eigen zu machen, welches er im Alltag nie hat erleben müssen. Das Ganze natürlich nur in einem begrenzten zeitlichen Rahm. Unter Publikumsjubel. Und für Geld.

Erfahrungen machte der besagte RTL-Reporter in seiner Frauenrolle unter anderem mit Grenzüberschreitungen. Überraschung; nicht zuletzt der durch alle Medien gegangene #aufschrei Anfang diesen Jahres hat genau das als Alltag deutlich gemacht. Dieses Wissen ist längst präsent. Dafür braucht es kein „Jenke-Experiment“. Und doch leitet RTL die Beschreibung der Folge mit dem Satz ein: „Jenke geht einem der größten Geheimnisse der Menschheit nach: dem Phänomen ‚Frau sein'“. Aha. Rückschluss: Frauen sind keine Menschen. Denn für als Frauen wahrgenommene Menschen ist das eigene Dasein wohl kaum ein Geheimnis.

Die meisten „Erkenntnisse“, die in solchen medienwirksamen „Experimenten“ gewonnen werden, sind für einen bestimmten Teil der Menschen ohnehin keineswegs neu. Und die jeweiligen Reporter sind in der Regel bei weitem nicht die ersten, die das Thema zur Sprache bringen. Sie sind nur oftmals die ersten, deren Erfahrungen anerkannt werden. Während Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden „übertreiben“ oder ihnen geraten wird, „sich nicht so anzustellen“, gelten die Erkenntinisse der Reporter plötzlich als „enthüllend“ oder gar „erschütternd“.

Die Lektion, die ich aus diesen Reportagen gelernt habe, ist nicht, dass Rassismus und Sexismus in Deutschland alltäglich sind. Um das zu erfahren, brauche ich keine überdurchschnittlich privilegierten und sicher sehr gut bezahlten Reporter, für die es nicht mehr als ein Experiment darstellt, ein paar Tage einige ihrer Privilegien abzulegen. Was diese Reportagen inklusive der Reaktionen darauf aber verdeutlichen, ist, dass nicht – wie es immer so schön heißt – Wissen Macht ist. Sondern dass Macht vielmehr bestimmt, was Wissen ist.

7 Kommentare zu „Über das An- und Aberkennen von (Erfahrungs-)Wissen.

  1. Mal wieder lesen: Gewalt durch Sprache. Bezogen auf die Geschlechterverhältnisse hat der Klassiker aus den 80ern Einiges an Erkenntnissen zu bieten. Traurig: Wir wissen das alles seit 30 Jahren …
    Oder mit Heinrich Heine: Aber ach, jeder Schritt, den die Menschheit vorwärts geht, kostet Ströme Blutes. *seufz

  2. danke dafür :)
    kleiner hinweis für weitere lektüre: „who can speak?“ in „Plantation Memories“ von Prof. Grada Kilomba,

Kommentare sind geschlossen.

Betrieben von WordPress | Theme: Baskerville 2 von Anders Noren.

Nach oben ↑