Speak up or walk out? (Teil 2 von 2)

Dieser Beitrag ist Teil 2 unseres Gastbeitrags von Claudus , der erste Teil ist gestern hier erschienen. Der Autor (cis, hetero, weiß, disabled) wohnt derzeit in Bayern, ist seit einigen Jahren queer-feministisch aktiv, schreibt gelegentlich Texte oder hält Vorträge zu Themen rund um Gender und Social Justice.

Sich mit den LGBT-Aktivist*Innen in Russland verbünden – nur wie?

[Hinweis: Ich werde im weiteren Verlauf dieses Beitrags die inklusivere Abkürzung LGBTQI verwenden, in den meisten Artikeln ist jedoch entweder von Lesbian and Gay, homosexual oder LGBT die Rede.]

Was wäre also zu tun und was bedeutet es auf die Betroffenen so zu hören, dass man nicht das eigene Verständnis aufdrückt, aber auch nicht inaktiv zusieht? Hier gibt es durchaus russische Aktivist*Innen, die sich offen für einen Boykott der Winterolympiade oder „alles Russischen“ aussprechen, so bspw. eine Gruppe in einem bei Queernations veröffentlichten Brief oder in einem Beitrag von Nancy Goldstein zusammengefasst. Allerdings widersprechen anderem wie das Russian LGBT Network, einer der größten Interessenverbände dieser Art, deutlich den Boykottvorhaben. Sie veröffentlichten unlängst ein ausführliches Statement zu dieser Frage. Neben dem Verweis auf den Fakt, dass Olympiaboykott in der Vergangenheit selten von Erfolg gekrönt war und weder die Boykotte der 1980er Olympiade in Moskau, noch derer 1984 in Los Angeles oder 1968 in Mexiko City groß etwas bewegt hätte, geschweige denn als relevant erinnert würden, sprechen sie sich deutlich gegen einen Boykott aus. Anstatt die Spiele zu boykottieren, so das Statement, wäre es eine einmalige Chance nach Sochi zu kommen und dort, vor Ort deutlich Stellung zu beziehen. Anstelle von Nicht-Olympia also die Hoffnung, die Spiele in eine große Pride Parade zu verwandeln oder zumindest die internationale Aufmerksamkeit zu nutzen, um russische LGBTQI-Aktivist*Innen sichtbarer zu machen.

Natalia Anatova, eine Bloggerin aus Russland, zeichnet sogar ein wesentlich düsteres Bild. Neben dem Hinweis, dass scheinbar in Russland „sexuelle Minoritäten“ der gebräuchlichere Begriff ist, setzt sie sich offen mit der Frage auseinander, inwiefern die russische Regierung wirklich als homophob zu bezeichnen ist, bzw. ob und wie westliche Interventionen wirksam sind bzw. sein können. Russland, so ihr Argument, hat keineswegs eine dezidiert homophobe Regierung, vielmehr ginge es Putin und Konsorten darum, zum einen innere Missstände zu übertünchen, zum anderen im Wesentlichen darum, sich als starke, das Zepter in der Hand haltende Macht zu präsentieren. Der „Westen“ wird hierbei von vielen Menschen in Russland als Feindbild beschworen, nachdem die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Ende der Sowjetunion nicht die erhoffte allgemeine Verbesserung nach sich zog. Homophobie ist hierbei nicht ausschließlich ein Kurs der Regierung, sondern weit Bestandteil eines Alltagsverständnisses. Offen Widerstand zu zeigen gefährdet die prekäre Sicherheit des „Zumindest wissen wir, wie unsere Gesellschaft funktioniert“, wohingegen sich in Gesellschaft „normal“ zu verhalten bedeutet staatlichen Sanktionen zu entgehen. Aktivismus, wie etwa Pride Parades, stellen diesen „normalen“ Status Quo in Frage und wird daher als bedrohlich empfunden, so die Analyse Anna Arutunyans:

Und das zeigt einen zugrundeliegenden Konservatismus, dem es nicht um Gott und Waffen geht, sondern um etas tieferes, einzigartigeres: das tief-sitzende, vermutlich erlernte, Mistrauen gegenüber Provokationen und Konflikt innerhalb der russischen Bevölkerung. Es gibt einen Grund für dieses Mistrauen: Die Russ*Innen wissen, wie ihre Gesellschaft und ihre Regierung funktioniert und das man durch Kopf zu hoch zu halten und Krawall anfangen riskiert zerstört zu werden.

Wenn die Regierung diese dann als „westliche Intervention“ stigmatisieren kann und sich über homophobe Gesetzgebung noch deutlicher als starke Kraft ins Bild setzen kann und damit zumindest bei den 42% der russischen Bevölkerung, die Homosexualität gerne bestraft sähe, Sympathie sammeln kann, dann wird ein Boykott daran nichts ändern. Bedauerlicherweise, so Anatovas Fazit, können Menschen im Westen vor diesem Hintergrund wenig tun, außer die Geschehnisse in Russland weiter verfolgen und sie ermahnt Verbündete, nicht zu sehr auf symbolische Politiken zu setzen, wenn russische Aktivist*Innen selbst in der Form des Widerstands sehr divers sind und nicht geschlossen hinter offen inszenierten Veranstaltungen stehen.

Die eine, gute und richtige Lösung bieten diese Perspektiven für aussenstehende Aktivist*Innen nicht. Will man sich nach den verschiedenen Stimmen der russischen Aktivist*Innen richten, bleibt – ähnlich wie zuvor – die Bandbreite von Nichtintervention bis zum Boykott erhalten. Was allerdings all diesen Beiträgen gemein ist, ist die eine zugrunde liegende Bitte: Handelt gegen Homophobie, seid solidarisch, aber bleibt aufmerksam denjenigen Forderungen der Betroffenen gegenüber. Wer also aktiv werden möchte, sollte eventuell den direkten Kontakt zu entsprechenden Aktivist*Innen suchen und mit diesen klären, ob und wie ein Kiss-In, ein Boykott, eine Soliparty oder andere Formen des Protestes gestaltet sein sollten. Ein erstes Feedback zu einigen Kampagnen gab es unlängst in Form der Kampagne „From Russia With Love“, bei der sich russische LGBTQI für Solidarität aus aller Welt bedankten.

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