Solidarität muss praktisch werden: Der konsequente Ausschluss von Tätern.

[Triggerwarnung: Gewalt gegen Frauen*, rape culture, sexualisierte Gewalt, Tätersolidarität. Gilt auch für die Links und die Kommentare.]

Studien in Deutschland und den USA zufolge wird etwa jeder vierten Frau mindestens einmal in ihrem Leben sexualisierte Gewalt angetan. Das ist ein ziemlich hoher Prozentsatz – und die Dunkelziffer dürfte sogar noch weit darüber liegen. Trotzdem gehen die meisten Menschen davon aus, weder Betroffene noch Täter in ihrem sozialen Umfeld zu haben. Rein rechnerisch müsste jede Person aber mindestens eine, wenn nicht sogar mehrere Betroffene kennen. Bei Tätern dürfte es sich ähnlich verhalten. Für die Betroffenen gibt es viele Gründe, zu schweigen. Im folgenden soll es darum gehen, welche Rolle das soziale Umfeld spielt und wie wir alle dazu beitragen können, der Vergewaltigungskultur, in der wir leben (müssen), etwas entgegen zu setzen.

Mangelnde Solidarität

Mangelnde Solidarität mit den Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist ein Hauptgrund dafür, dass viele Betroffene die ihnen angetanen Gewalttaten nicht öffentlich machen. Oftmals befürchten sie, nach einem Outing des Täters (einem Öffentlichmachen der Taten) noch schlechter darzustehen als ohnehin schon. Leider sind diese Sorgen auch nicht ganz unberechtigt. Das soziale Umfeld der Betroffenen – Freund*innen, (Wahl-)Familienmitglieder, Politgruppen, Wohnzusammenhänge, usw. – verhält sich oft un_bewusst tätersolidarisch. Das reicht vom Nicht-glauben oder Herunterspielen der Tat über Entschuldigungen für das Verhalten des Täters bis hin zu Schuldzuweisungen an die Betroffene oder gar offene Drohungen. All diese Reaktionen sind Bestandteil einer Vergewaltigungskultur, also einer Kultur, in der sexualisierte Gewalt weit verbreitet ist, geduldet wird und für die Täter weitestgehend ohne Folgen bleibt. Eine Betroffene, die über die Taten spricht, stört diese Ordnung und wird dafür gesellschaftlich sanktioniert (bestraft).

Die Verantwortung liegt bei uns allen

Um diese Vergewaltigungskultur zu bekämpfen, müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen Betroffene sich trauen die Taten öffentlich zu machen und sich Unterstützung zu holen. Diese müssen sie in dem Falle natürlich auch uneingeschränkt erhalten. Auf der anderen Seite muss (potentiellen) Tätern deutlich gemacht werden, dass sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, wenn sie anderen Menschen sexualisierte Gewalt antun. Es muss also eine Situation geschaffen werden, in der allen klar ist, dass sexualisierte Gewalt nicht geduldet wird. Und zwar unter keinen Umständen.

Das Ganze klingt paradoxerweise (scheinbar widersprüchlich) genauso einleuchtend wie utopisch (Utopie = Wunschtraum). Die Verantwortung liegt bei uns allen. Wie wir mit Betroffenen und mit Tätern umgehen, entscheidet mit darüber, wie leicht es Menschen fällt, sexualisierte Gewalt anzuwenden. (Was aber keineswegs auch nur einen Bruchteil der Schuld von den Tätern nimmt.)

Konsequente Solidarität – Täter ausschließen

Auf High on Cliches ist letztes Jahr ein Beitrag erschienen, der seitdem beständig zu den Beiträgen gehört, die ich am häufigsten verlinke. Er gehört einer (sehr lesenswerten!) Serie mit dem Titel „You can stop r***“ („Du kannst Vergewaltigungen stoppen“) an, und wirft die scheinbar einfache Frage auf: „Warum seid ihr noch Freunde?“. Das Fazit, dem ich mich anschließen möchte, lautet:

Grenzüberschreitendes Verhalten hält nicht nur an, weil es Menschen gibt, die Grenzen überschreiten. Es hält an, weil eben diese Menschen keine Sanktionen zu erwarten haben. […] Also merke: Menschen, die Grenzen verletzen, sind nicht deine Freunde. Oder du bist mitschuld.

Der offene Ausschluss eines Täters erfordert jedoch eine Positionierung, die viele Personen lieber umgehen würden. Während der Ausschluss der Betroffenen stillschweigend erfolgt, muss im Falle des Auschlusses des Täters klar Stellung bezogen werden. Das mag für einige nicht einfach sein – verglichen mit dem, was die Betroffene durchmachen musste und muss, sollte sich der Blickwinkel jedoch etwas verschieben. Wichtig zu bedenken ist hierbei immer: Nicht die Betroffene ist es, die durch das Outing des Täters die vermeintliche „Harmonie“ stört. Dies hat der Täter längst selbst getan, indem er einem anderen Menschen Gewalt angetan hat. Das ignorieren der Tat macht sie nicht ungeschehen.

 „Er hat sich doch schon dafür entschuldigt“

Forderungen der Betroffenen werden, wie bereits angesprochen, von Vielen als störend empfunden. Umso erleichterter ist das Umfeld oftmals, wenn der Täter sich entschuldigt, Reue zeigt und vielleicht sogar an sich arbeiten möchte (im letzten Fall werden teilweise sogar – völlig unangebrachter Weise – Kekse verteilt (Redewendung: unangebrachtes Lob für etwas, das selbstverständlich sein sollte)). In diesem Fall wird die Betroffene oft implizit (unausgesprochen) oder auch explizit (ausgesprochen) unter Druck gesetzt, die Entschuldigung anzunehmen, um „die Harmonie wiederherzustellen“ (sic!). Überraschung: auch das ist Bestandteil der Vergewaltigungskultur. Wer es einer betroffenen Person (im schlimmsten Fall ungefragt) nahelegt, eine solche Entschuldigung anzunehmen, verhält sich tätersolidarisch.

Kein Vergeben, kein Vergessen?

Die Vorstellung, dass sexualisierte Gewalt etwas ist, was auch das Leben des Täters nachhaltig beeinflussen soll, ist für viele Menschen unerträglich. Sie sprechen dann davon, dass Menschen die Chance gegeben werden sollte, sich zu ändern. Vielleicht sprechen sie sogar von Fairness. Mich erinnert das ein bisschen an die Berichterstattung im Fall Steubenville; statt darauf einzugehen, was die Taten für das weitere Über_Leben der Betroffenen bedeuten, wurde in erster Linie davon gesprochen, dass der Prozess die Leben der beiden Täter „zerstört“ hätte. Auch hier wieder: So funktioniert eine Vergewaltigungskultur.

Was also tun?

Wenn also die meisten von uns – ob gewollt oder nicht – mit zum Fortbestehen einer Vergewaltigungskultur beitragen, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass wir genauso daran mitwirken können, ihr etwas entgegenzusetzen. Ein wichtiger Schritt hierzu ist die bedingungslose und uneingeschränkte Solidarität mit den Betroffenen.  Ein betroffenensolidarischer Umgang beinhaltet für mich den konsequenten Ausschluss von Tätern aus Politgruppen und Wohnprojekten. Auch dann, wenn der Täter sich entschuldigt hat und auch, wenn die Tat schon Jahre zurück liegt. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass alles andere zu weiteren Ausschlüssen führt. Und zwar von Betroffenen, die sich – aus Gründen! – nicht vorstellen können, mit Tätern zusammen zu arbeiten oder zu leben. Die vermeintliche Kompromisslösung: „Er darf mitmachen, bis eine Betroffene etwas anderes fordert“ halte ich hierbei für wenig praktikabel (umsetzbar). Zum einen erfordert eine solche Vereinbarung schon wieder die Initiative (Anregung) von Betroffenen. Es bedeutet einen weiteren Kraftakt von Menschen, deren Kraft oftmals längst erschöpft ist. Zum anderen halte ich es für wenig realistisch, dass ein Täter, der vielleicht schon seit Jahren in einer Politgruppe aktiv ist/ in einem Wohnprojekt lebt/… wirklich rausgeschmissen wird, wenn eine neu hinzugekommene Person das fordert. Ganz abgesehen davon, dass eine Person, die neu in ein Umfeld tritt, eine solche Forderung wohl in den wenigstens Fällen stellen würde. Räume zu schaffen, in denen Betroffene sich wohl fühlen können, halte ich für wichter, als einen Täter dafür zu belohnen, dass er sich mit seinen Taten auseinandersetzt. Und ich sehe auch nichts unfaires daran, wenn Täter die Folgen ihrer Taten auch nach Jahren noch zu spüren kriegen – denn das tuen die Betroffenen auch, in ihrem Falle nur leider unverschuldet.

Zeichen setzen

Ein derart konsequenter Umgang würde Zeichen setzen, und zwar sowohl in Richtung der Betroffenen als auch in Richtung der (potentiellen) Täter. Wenn (potentielle) Täter damit rechnen müssen, die Konsequenzen ihrer Taten ein Leben lang zu tragen, wird das die Hemmschwelle hochsetzen und auf Dauer dazu beitragen, dass weniger Menschen zu Tätern werden. Für Betroffene hingegen wird es die Hemmschwelle senken, das Schweigen zu brechen und sich Unterstützung zu holen. Der konsequente und dauerhafte Ausschluss von Tätern würde somit einen Schritt weg von der Täter- und hin zur Betroffenensolidarität bedeuten. Und könnte einen ersten Riss im Fundament unserer Vergewaltigungskultur bewirken.

11 Kommentare zu „Solidarität muss praktisch werden: Der konsequente Ausschluss von Tätern.

  1. ich sehe folgende probleme:

    a) der ausschluß wäre höchstwahrscheinlich auf die linke szene beschränkt. die ist eh eine jugendszene, die leute mit 25-30 verlassen. insofern weiß ich nicht, ob das wirklich ein probates druckmittel darstellt

    b) stellt sich die frage, inwiefern potentielle vergewaltiger sich hinsetzen und überlegen „hey, wenn ich das jetzt durchziehe, dann kriege ich ärger in meinem persönlichen umfeld“. dafür müsste den tätern in der situation bereits völlig klar sein, was sie da gerade im begriff sind, zu tun. das scheint mir aber gerade der knackpunkt zu sein: subjektiv wird das ja oft in „verführung“ umgedeutet, oder „widerstand überwinden“ oder so eine scheiße, und sich nicht gesagt „jetzt vergewaltige ich meine freundin“. auffälig ist zB, dass in umfragen männer vergewaltigungen dann zugeben, wenn die entsprechenden handlungen genau umschrieben, aber nicht als vergewaltigung bezeichnet werden

    c) die bereitschaft, seine tat zuzugeben, würde sicherlich sinken, da der täter davon ja ausschließlich nur nachteile hätte. abstreiten und hoffen, dass leute einem glauben, gewinnt da nochmal an attraktivität

  2. Tja. Schade, dass das praktisch immer so viel komplexer ist…
    Mein bester Freund (und Ex-ab-und-zu-Geschlechtspartner) hat mir sexualisierte Gewalt angetan. Das hat unsere Beziehung sehr verunsichert, ich hab mich erst zurückgezogen, dann haben wir viel über Grenzüberschreitungen geredet und ich hoffe inständig, dass er daraus irgendwas gelernt hat. Aber er ist immer noch mein Freund. Ein sehr guter. Und dann steht da der Satz: „Menschen, die Grenzen verletzen, sind nicht deine Freunde. Oder du bist mitschuld.“ Ja? Bin ich jetzt mitschuld?

  3. Hallo.

    Danke für den Artikel. Ich finde die Gedankengänge logisch und sinnvoll.

    Allerdings stört mich ein bisschen, dass bei dem vorgeschlagenen Verfahren offenbar der Wille der Betroffenen bei den Sanktionierungen ignoriert wird.

    „Die vermeintliche Kompromisslösung: “Er darf mitmachen, bis eine Betroffene etwas anderes fordert” halte ich hierbei für wenig praktikabel (umsetzbar). Zum einen erfordert eine solche Vereinbarung schon wieder die Initiative (Anregung) von Betroffenen. Es bedeutet einen weiteren Kraftakt von Menschen, deren Kraft oftmals längst erschöpft ist.“
    Den Gedanken, dass es eine zu hohe Hemmschwelle sein kann, für Betroffene, wenn diese entscheiden müssen, damit ein Ausschluss stattfindet, ist richtig und ein großes Problem.
    Auf der anderen Seite kann es aber auch für Betroffene eine Hemmschwelle bilden Grenzüberschreitungen überhaupt zu thematisieren, wenn die Sanktionen bereits voher festgelegt sind. Etwa dann, wenn Betroffene diese Sanktionen nicht für angemessen halten oder sie den Vorfall nicht zu öffentlich thematisieren wollen.
    Ich glaube grundsätzlich gibt es keine sinnvolle Alternative dazu doch Betroffene über den Täterumgang entscheiden zu lassen, auch wenn das eine Belastung darstellen kann. Ein Kompromiss könnte sein, dass der Ausschluss im Falle einer Grenzverletzung das Standardverfahren ist, Betroffene aber auch die Möglichkeit haben einen anderen Umgang zu fordern. Das senkt den Druck aber wahrscheinlich nicht wesentlich.
    (Um Missverständnissen vozubeugen: Der Kompromiss wird hier nicht zwischen den Interessen der Betroffenen und dem Täter, sondern zwischen den verschiedenen Zwängen und Hürden getroffen. Das Interesse des Täters ist natürlich nachrangig.)

    Ansonsten habe ich aber auch ein diffuses Misstrauen gegenüber Sanktionen nach dem Prinzip der Abschreckung (im Gegensatz zu Sanktionen zum Schutz für Betroffene und zur Freiraumbildung):
    „Wenn (potentielle) Täter damit rechnen müssen, die Konsequenzen ihrer Taten ein Leben lang zu tragen, wird das die Hemmschwelle hochsetzen und auf Dauer dazu beitragen, dass weniger Menschen zu Tätern werden.“
    Die Wirkung dieses Effekts ist afaik relativ umstritten, besonders in linken und liberalen Diskursen. Hierbei ist vielleicht eine generelle Problematisierung der Grenzüberschreitung auf allen Ebenen des Umfelds des Täters zur Problembewusstseinsbildung sinnvoller als ein Ausschluss, welcher es dem Täter ggf. erleichtert sich selbst in der Opferrolle zu inszenieren.
    Aber das sollen nur ergänzende Gedanken sein und keine grundsätzliche Kritik an dem Beitrag.

  4. @linda: Das „mitschuld sein“ bezieht sich hier auf Nichtbetroffene. Der ganze Artikel hat ja den Fokus darauf, wie Personen, die nicht betroffen sind, sich positionieren sollten, bzw. es wird deutlich gemacht, dass vermeintliches Nichthandeln eben auch eine Positionierung (pro Täter) ist. Natürlich geht es hier nicht darum Betroffene zu Mitschuldigen zu erklären. Darüber das allen Betroffenen Solidarität zu stehen sollte, egal wie sie mit der Situation gerade umgehen, hat Viruletta vor einiger Zeit auch einen Text geschrieben.

  5. @ bigmouth:

    zu 1: Das gilt doch für etliche emanzipatorische Konzepte. Und ich kann aus meiner Perspektive sagen, dass es schon ein riesen Gewinn wäre, wenn es wenigstens eine Szene/ Bubble/ … geben würde, in der NICHT von mir erwartet wird, mit Tätern zusammen zu arbeiten und zu leben.

    zu 2: Du schreibst selber es wird UMgedeutet. Für potentielle Täter besteht aktuell in aller Regel noch gar keine Notwendigkeit, auf die Grenzen anderer zu achten und sich dafür zu sensibilisieren, weil Grenzüberschreitungen eben in den allermeisten Fällen ungeahndet bleiben. Würde sich das ändern, dann würde auch für Menschen, die zu Tätern werden, mehr „Anreiz“ bestehen, darauf zu achten, ob die Situation für die Gegenüber gerade noch angenehm ist.

    zu 3 (und dieser Punkt ist mir der wichtigste): Wenn wir das Konzept der Definitionsmacht anwenden, spielt es gar keine Rolle mehr, ob Täter sich zu ihren Taten bekennen oder nicht. Wichtig ist, dass für die Betroffenen eine Situation geschaffen wird, in der sie die Taten öffentlich machen können, ohne mit negativen Konsequenzen zu rechnen.

  6. @ drittereihe:

    Zu deinem ersten Punkt:
    „Auf der anderen Seite kann es aber auch für Betroffene eine Hemmschwelle bilden Grenzüberschreitungen überhaupt zu thematisieren, wenn die Sanktionen bereits voher festgelegt sind. Etwa dann, wenn Betroffene diese Sanktionen nicht für angemessen halten oder sie den Vorfall nicht zu öffentlich thematisieren wollen.“

    Das ist ein Problem was ich ebenfalls sehe und für das mir bisher noch keine wirkliche Lösung eingefallen ist. Ich kann mir auch vorstellen, dass es die Hemmschwelle für manche Betroffene erhöhen könnte – auch wenn es selbige für eine Vielzahl anderer Betroffener senken würde.

    Der Gedanke, der bei mir dahinter steckt, ist aber der, dass ich es schwierig finde von Betroffenen zu erwarten, überhaupt mit Tätern zusammen zu arbeiten/ zu leben. Nicht nur mit „ihrem“ Täter, sondern auch mit den Tätern anderer Betroffener. Hier stellt sich mir die Frage, ob die Definitionsmacht wirklich nur für eine Betroffene gegenüber ihrem Täter/ ihren Tätern gelten sollte. Muss ich (als Betroffene, aber vielleicht sogar auch schon als potentielle Betroffene) mein Unwohlsein in der Gegenwart eines Täters wirklich rechtfertigen? Und kann von mir erwartet werden, da „irgendwie drüber zu stehen“ (was ich sowieso für unmöglich halte)?

    Zum zweiten Punkt: Hier kann ich meine Antwort auf Punkt 1. und 2. bei bigmouth nur nochmal wiederholen.

  7. Hmmm ja interessante Gedankengänge. Ich scheiter beim Vorstellen dieser Utopie nur leider immer wieder daran, dass ich mir nicht klar wird, wie damit umgegangen werden soll, wenn Täter_innen im Umfeld leben von denen es niemand erzählt und damit nur die Betroffenen wissen? Ich befürchte, dass damit Täter_innen eher dazu tendieren würden die Betroffenen unter Druck zu setzen nichts weiter zu erzählen.
    Auch glaube ich nicht, dass in der aktuellen Gesellschaft (zumindest in Deutschland) – egal ob Gesamt oder in der linken Szene – das wirklich funktionieren würde und stattdessen eher dazu führen würde, dass Betroffene die Schuld dafür gegeben würde das diese „coole“ Person (=Täter_in) ausgegrenzt wird, weil sie einen Fehler gemacht hat. Dafür fehlt bisher die Stimmung und Einstellung bei jedem einzelnen Individuum.
    Und dann wird mir nicht klar, ab welcher Tat diese für einen automatischen Ausschluss qualifizieren würde: Vergewaltigung? Ohrfeige? …istische Beleidigungen? Grenzüberschreitendes (z.B.: da wiederholtes) Nachfragen nach Sex? Was ist mit Menschen die sowohl Täter_in als auch Betroffene von Gewalt sind? Wird denen zuliebe Täter_innen ausgeschlossen um sie im selben Atemzug gleich mit auszuschließen? So groß der Reiz dieser Utopie auch ist, ich werd den Beigeschmack nicht los, dass dann sehr viele Menschen sich voneinander isolieren müssten – zumindest in manchen Räumen.

  8. Als Antigewaltaktivist_in schätze ich es sehr, dass ihr regelmäßig zum Thema sexualisierte Gewalt postet und Anregungen für eine wichtige Diskussion gebt. Vielen Dank, Viruletta, dass du in deinem Artikel die Wichtigkeit der Solidarität mit Betroffenen betonst. Auch ich erlebe häufig, dass es in persönlichen Kontakten häufig keine klaren betroffenenunterstützenden Positionierungen gibt, und finde es wichtig, da ein anderes Verhalten einzufordern.
    Außerdem sprichst du den wichtigen Punkt an, wie ich als nicht-betroffene Person mit Personen umgehen kann, von denen ich weiß, dass sie sexualisierte Gewalt ausgeübt haben. Eine super wichtige Frage, auf die ich in verschiedenen Situationen verschiedene Antworten finde – oder auch nicht.

    Gleichzeitig macht der Artikel für mich auch einige Reibungsflächen auf und ich konnte ihn nur angespannt lesen. Hier sind meine vorläufigen Gedanken dazu:

    Definitionsmacht und Betroffenenzentriertheit
    Im Umgang mit sexualisierter Gewalt finde ich es wichtig, geschütze(re) Räume für betroffene Personen herzustellen. Für mich ist dabei zentral, was der Wunsch und die Bedürfnisse der betroffenen Person sind. Einen geschütze(re)n Raum herzustellen kann in meiner Perspektive dabei ganz unterschiedlich aussehen. Geht es um langfristige oder situative Ausschlüsse? Möchte die betroffene Person überhaupt einen Ausschluss der gewaltausübenden Person? Wenn ich diese Entscheidungen für die betroffene Person treffe, indem ich Ausschluss als die einzig mögliche Variante betrachte, dann nehm ich der betroffenen Person die Kontrolle über die eigene Wahl ihrer Umgangsstrategien. Da sexualisierte Gewalt meist immer auch einen Kontrollverlust bedeutet, finde ich es wichtig, in der Unterstützung von betroffenen Personen so viel Kontrolle und Handlungsmöglichkeit wie möglich (wieder) herzustellen.
    Ausschlüsse von Personen, die Gewalt ausüben/ausgeübt haben, fallen leider viel zu oft auf die betroffene Person zurück. Das hängt auch damit zusammen, dass eine Anonymisierung der betroffenen Person häufig nicht wirklich gegeben ist oder von der gewaltausübenden Person nicht eingehalten wird. Ausschlüsse haben deswegen eben auch häufig Folgen für betroffene Personen. In der Unterstützung von Betroffenen finde ich es wichtig, über solche Folgen zu sprechen und diese bei der Entwicklung von Strategien abzuwägen. Eine betroffene Person kann meiner Meinung nach immer nur selbst darüber entscheiden, welche (potentiellen) Folgen sie in Kauf nehmen möchte.

    Bandbreite sexualisierter Gewalt
    In dem Text vermischen sich meiner Meinung nach verschiedene Formen von sexualisierter Gewalt. Nicht jede Grenzüberschreitung ist gleich eine Vergewaltigung. Auch hier finde ich die Definition der Situation von Seiten der betroffenen Person zentral. In meiner Perspektive üben wir alle (potentiell) Gewalt aus. Wegen fehlender Kommunikation kann ich mal eine Grenze überschreiten. Ich kann eine andere Person in Bezug auf frühere Gewalterfahrungen triggern, ohne dass dies meine Absicht gewesen wäre oder ich das womöglich hätte verhindern können. Ich finde es wichtig, auch aus dieser Position über (sexualisierte) Gewalt nachzudenken. Wenn ich jede Grenzüberschreitung mit einem Ausschluss „bestrafe“, dann schaffe ich vermeintlich einen reinen Raum, in dem keine Gewalt mehr stattfinden kann. Ein solcher Mythos hält uns meiner Meinung nach eher davon ab, über ein verantwortungsvolles Miteinander nachzudenken, in dem wir uns gegenseitig dazu anhalten, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Das heisst nicht, dass ich komplett gegen Ausschlüsse bin. Ich finde diese in vielen Situationen für eine wichtige Strategie, um geschütze(re) Räume herzustellen. In anderen Gewaltsituationen finde ich es aber wichtiger, reinzugehen statt rauszugehen. Ich finde es wichtig, eine Verantwortungsübernahme einzufordern und kritisch Auseinandersetzungen zu führen.
    Was ist die gesellschaftliche Vision, wenn der Umgang mit sexualisierter Gewalt primär über Ausschlüsse stattfindet? Ist in dieser Vision möglich, sexualisierte Gewalt langfristig zu verhindern?
    Im US-amerikanischen Kontext gibt es einige Gruppen, die sich damit auseinandersetzen, inwiefern es problematisch ist, Modelle aus dem Straf- und Gefängnissystem auf feministische Antigewaltarbeit zu übertragen und Konzepte von community accountability entwickeln.
    Incite!: http://www.incite-national.org/index.php?s=114
    Zine „The Revolution Starts at Home“: http://www.incite-national.org/media/docs/0985_revolution-starts-at-home.pdf

    Gewaltausübende Personen
    Wie vielleicht schon aufgefallen ist, schreib ich von gewaltausübenden Personen oder Personen, die Gewalt ausüben/ ausgeübt haben. Meine Tendenz ist es, bei Vergewaltigungen auch explizit von Täter_innen oder Vergewaltiger_innen zu sprechen. In anderen Formen von sexualisierter Gewalt finde ich es wichtig, eher von dem Verhalten der Person zu sprechen – ähnlich wie in den Diskussionen rund um andere Diskriminierungsformen, wie Rassismus.
    In dem Text schreibst du, Viruletta, von Tätern und Betroffenen und machst damit ein zweigeschlechtliches Modell mit klarer Rollenverteilung auf. Jedoch sind nicht alle Täter Cis-Männer und alle Betroffenen Cis-Frauen. Ich finde es wichtig, auch Gewalt in queeren oder FrauenLesbenTrans*-Zusammenhängen zu thematisieren bzw. thematisierbar zu machen.

  9. danke, jay, für deinen kommentar! du sprichst viele wichtige facetten dieses extrem komplexen problems an.
    besonders die unmöglichkeit, komplett gewaltfreie räume herzustellen (wie auch grünegeranie anmerkt): das wäre nur möglich, wenn die gesellschaft/wir nicht dauernd vermeintlichen selbstwert durch die dominanz über und abwertung von anderen (gruppenbezogen oder individuell) herstellen würden, sowie konstruktiv mit verletzungen umgehen könnten. auch den letzten von dir angesprochenen punkt finde ich sehr wichtig.

    insgesamt glaube ich, dass bei diesem problem mehrere herangehensweisen von vielen seiten und auf verschiedene arten sich nicht unbedingt widersprechen, sondern sozusagen verschiedene „angriffspunkte“ angehen.
    den von dir vertretenen ansatz halte ich für den langfristig wirkungsvollsten, weil er auf einen verantwortungsvollen wandel von gemeinschaften/der gesellschaft abzielt. in berlin gibt es ebenfalls eine gruppe, die community accountability verbreiten möchte: http://www.transformativejustice.eu/?page_id=27, hier direkt zu ihrer arbeit zu sexualisierter gewalt: http://www.transformativejustice.eu/?page_id=2. in berlin ist auch die gruppe „about 4920: feministische anflüge“.

    das ist basisarbeit, umgeben von einer gesellschaft, die in der großen gesamtheit teils heimlich, teils offen tätersolidarität ausübt: hier absichtlich „täter“ in der männlichen form, weil die gesellschaftliche solidarität sich auf die männlichen täter bezieht, nicht auf täterinnen. diese solidarität ist resultat eines denkens, das die verdinglichung und nutzbarmachung von frauen irgendwo für „natürlich“ oder jedenfalls verständlich und dominanz für eine manifestation von männlichkeit hält. diese solidarität ist es, worauf täter bauen können, woraus sie die selbstgewissheit ziehen, keinerlei konsequenzen ihres handelns tragen zu müssen. und sie kalkulieren im grossteil der fälle richtig. gesellschaftlichen wandel zu bewirken, bedeutet meines erachtens eben auch, es den tätern unbequem zu machen, indem die gesellschaftliche tätersolidarität aufgedeckt und angeprangert wird.
    virulettas ansatz ist ebenfalls einer, der es angesichts dieser situation den tätern unbequem machen will, bzw. vor allem solidarität mit den betroffenen ausüben. ein gruppenausschluss ist aber nur in gruppen/gemeinschaften möglich, bei denen ein entsprechender konsens vorhanden ist. da das wohl eher wenige sind (hier von vornherein auf linke politgruppen und wohnprojekte begrenzt), haben die wenigsten betroffenen die möglichkeit, sich auf so eine gruppensolidarität zu verlassen. betroffene können in den unterschiedlichsten sozialen oder nicht-sozialen situationen leben. möglichst weitflächig anwendbar scheint mir eher die aufforderung, betroffenen, die sich jemandem anvertrauen, bedingungslos zu glauben. welche konsequenzen dann jeweils möglich und gewünscht sind, ist situationsabhängig. des weiteren halte ich anlaufpunkte wie feministische gruppen, bzw. gruppen, die sich gegen sexuelle gewalt einsetzen für wichtig.

    @jay: wo und in welcher form bist du denn als antigewaltaktivist_in aktiv? würde mich sehr freuen, wenn du mir, gerne auch direkt, antwortest.

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