Schmerzensfrau. Vom Leben mit chronischen Schmerzen.

Dieser Text ist Teil 129 von 140 der Serie Die Feministische Bibliothek

„So, jetzt sagen Sie mal, wie würden Sie Ihren Schmerz kategorisieren auf einer Skala von 1 bis 10?“ Häufig, wenn ich diese Frage gestellt bekommen habe, war mein erster Gedanke: „Was soll meine Aussage bringen, wenn ich nicht einmal regelmäßig gefragt werde und es wenigstens einen Verlauf zu dokumentieren gebe?“. In anderen Situationen aber war der Schmerz so groß, dass ich zu elaborierten Gedanken nicht mehr fähig war und irgendeine Zahl, die sich für mich in diesem Moment richtig anfühlte, genannt habe. Das erwies sich auch selten als richtig, denn kaum jemals wurde meine Zahl unkommentiert aufgenommen. Beispiel: Ich liege im Krankenwagen, nachdem ich in einem Zug vor Schmerzen fast zusammengebrochen bin. Ich kann gerade seit etwa einer Minute wieder Worte formulieren, der Schmerz klingt also etwas ab. Ich sage eine relativ hohe Zahl. Der Sanitäter lacht etwas: „Naja, das ist eine Zahl, die Frauen bei der Geburt nennen.“

In ihrem Buch Pain Woman Takes Your Keys. And Other Essays From a Nervous System (University of Nebraska, 2017) schreibt Sonya Huber über das Leben mit chronischen Schmerzen und chronischen Krankheiten. Sie analysiert wie gerade frausierte Personen hinsichtlich von Schmerz nicht ernst genommen werden, das eigene Verhältnis zum schmerzenden (versagenden?) Körper, die Unterbehandlung von chronischen Schmerzpatient_in, die ewigen gut gemeinten Tipps (Hast du schon einmal Yoga probiert?), Sex oder die Abwesenheit von Sex, Schmerz-Selfies und eben auch unzureichende Schmerzskalen. Für letztere bietet Huber eine wunderbare Alternativskala an, die so perfekte Kategorien umfasst wie „2. Ich bin beschäfftigt-beschäfftigt-beschäfftigt, denn wenn ich mich schnell genug bewege, dann holt mich der Schmerz nicht ein! Und jetzt bin ich in Bewegung, aber sobald ich anhalte, wird die Couch mich wie ein Magnet anziehen.“*, „7. Fass mich verdammt noch mal nicht an.“ und den Abstufungen von ich kann nicht mehr lesen, über ich kann nicht mehr TV sehen zu ich kann keine Handyspiele mehr spielen. Selten habe ich mich in einem Text so wiedererkannt.

Huber wechselt zwischen unterschiedlichen Schreibstylen, mal sehr poetisch, häufig humorvoll, klar analysierend, mäandernd, Alltagsbeschreibungen, öffentliche Briefe, Listen. Viele der einzelnen Texte sind relativ kurz (was gerade, wenn man selbst beispielsweise Schmerzen erlebt, super ist). Insgesamt hat das Buch nur knap 180 Seiten, doch schafft es Huber diese prall zu füllen und viele unterschiedliche Ebenen anzureißen, von Kritiken am Gesundheitssystem (hier natürlich mit besonderem Fokus auf die USA), zu Annäherungen, was Schmerz eigentlich ist/ bedeutet/ macht, Blicke auf Diskurse rund um Krankheit/Gesundheit (zB zum Thema Dankbarkeit) und Analysen alltäglicher Situationen. Huber gibt Einblicke, was es für sie bedeutet mit chronischen Schmerzen/ Krankheiten lohnzuarbeiten und Mutter zu sein. Sie spricht offen über Versagensängste und Gedankenspiralen zu Produktivität, aus denen nur schwer ein Entkommen möglich ist.

In einem ihrer Essays schreibt Huber: „Schmerzensfrau hat dir Zeugs zu erzählen und sie hat nur eine Minute Zeit bevor sie dazu zu müde ist. Schmerzensfrau weiß Dinge“. Es lohnt sich Schmerzenfrau(en) zuzuhören. Als Person, die teilweise Diagnosen mit Huber teilt, habe ich bei Pain Woman Takes Your Keys viel genickt und genauso viel an Zitaten unterschrichen und notiert. Das Buch ist aber auch ein guter Einstieg für alljene ist, die bisher keine Erfahrungen mit chronischen Schmerzen und Krankheiten machen mussten. Und für alle, die weiter lesen wollen, führt Huber auf ihrer Webseite eine Liste mit Memoiren, Essays, Tagebüchern und weiteren Ressourcen zu Krankheit und Behinderungen.

*Alle Zitate aus dem Englischen von mir übersetzt.

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