Mein Problem mit dem Gesichtsschleier

Es ist unser dritter Tag in Kairo, und wir sind zum ersten Mal bei Nachbarn zum Essen eingeladen. Mina steht am Küchentresen und macht Hamburger. Dabei trägt sie ein langes Kleid, eine Hochsteckfrisur und ist geschminkt. Ihre Freundin sitzt in Hose und engem T-Shirt lässig auf dem Küchenstuhl und streicht sich die kurzen Haare aus dem Gesicht.

Wir Frauen unterhalten uns über das Leben in Kairo. Sie geben mir Einkaufstipps und empfehlen Restaurants. Wir sprechen über Sprachschulen und die islamische Universität Al-Azhar. Plötzlich baut sich Minas Freundin auf. Sie erzählt mir, sichtlich verärgert, dass es an der Universität Al-Azhar doch tatsächlich Frauen gäbe, die unterrichteten. Ich sage, dass ich nichts Verwerfliches daran erkennen kann. Schließlich ist es doch selbstverständlich, dass Frauen Wissen erwerben und weitergeben. „Aber doch nicht an Männer!“, ruft sie. Niemals würde sie sich an der Al-Azhar unterrichten lassen – nicht von einer Institution, die solche Frauen toleriere. Mina nickt zustimmend.

„Was ist denn schlimm an einer Frau, die unterrichtet? Auch du willst doch nicht bloß wegen eines Stück Tuchs verurteilt werden“, entgegne ich. Sie schaut mich mit großen Augen an und sagt dann empört: „Schwester, ich trage einen Niqab [Gesichtsschleier].“ Ich bin überrascht. Will weder sagen, was ich denke, noch was ich alles so tue.

Einige Wochen später fängt mein Arabischkurs an. Ich bin froh und euphorisch, will das Land und die Leute besser verstehen. Im Klassenzimmer warte ich auf meine Lehrerin. Dann betritt meine Lehrerin Reehan den Raum. Sie trägt einen Niqab. Plötzlich fühle ich mich unwohl. „Du bist doch offen und liberal, Äußerlichkeiten sind dir nicht wichtig“, sage ich mir. Reehan schließt die Tür und nimmt ihren Schleier ab. Freundlich begrüßt sie mich und fängt mit dem Unterricht an. Ich lerne nicht viel an diesem Tag.

Ich beschließe, ich will Reehan kennenlernen. Zu Beginn der nächsten Unterrichtsstunde sage ich, dass ich dieses Mal das Reden üben möchte und schieße gleich mit der ersten Frage los: „Warst du auch auf dem Tahrirplatz?“ „Selbstverständlich“, sagt sie. Sie kramt ihr Handy heraus, setzt sich neben mich und zeigt mir Fotos von der Revolution. Dabei erklärt sie mir die Bilder und schreibt gleichzeitig neue Vokabeln auf.

Sie liest mir ein Protestschild vor, bei dem es um den ehemaligen ägyptischen Polizeipräsidenten geht. „Er ist ein schlechter Mann. Er hat versucht Muslime und Christen auseinanderzutreiben, indem er in Alexandria einen Anschlag auf eine Kirche verüben ließ.“ „Warum?“, frage ich. „Um die Bevölkerung von ihren Machenschaften abzulenken“, erklärt Reehan. Dann erzählt sie davon, wie sie die Kopten beschützten und die Kopten sie beschützten. Dass Religion in solchen Fällen egal ist, dass sie alle zusammengehören, weil sie Ägypter sind.

Bei einem Bild bleiben wir hängen. Es ist Nacht, überall sind protestierende Menschen zu sehen. Dazwischen steht ein großes Stück Stoff in Grau mit einer ägyptischen Flagge. „Das bin ich!“, sagt Reehan und lacht – zusammen mit mir.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil ich mich zum ersten Mal in der „anderen“ Position wiedergefunden habe – zumindest bewusst. Als diejenige, die sich derart vom Äusseren beeindrucken bzw. einschüchtern liess, dass sie blind für das Individuum wurde. Einerseits war ich enttäuscht von mir, andererseits dankbar für die Erfahrung. Denn ich möchte nicht nur verstehen, sondern auch in aller beschämenden Deutlichkeit fühlen: Wie ist es, wenn man einer Person gegenübersteht, die man in erster Linie nur und ausschliesslich mit den Bildern im eigenen Kopf verbindet? Wenn man im eigenen Kopf und Körper ganze Kämpfe und Diskussionen austrägt, um diese Bilder zu überwinden, die eigenen überholten Vorstellungen hinter sich zu lassen und möglichst vorurteilsfrei sich dem Menschen zu öffnen? Den Menschen zu sehen?

Der Gesichtsschleier entspricht nicht meinem Islamverständnis. (Bin jedoch gegen ein Verbot, wie ich hier und hier schrieb). Aber ich sträube mich davor, dass Politik, theologische Fragen oder Meinungsverschiedenheiten jeglicher Art meinen Umgang mit Menschen derart prägen, dass ich in ihnen nur den Konflikt sehe.

Das war auch der Grund, warum ich am 1. Mai 2008 in Hamburg als Nazis demonstrierten mir meinen kleinen Jugendpresseausweis schnappte, ihn dem verwunderten Polizisten an der Absperrung vor die Nase hielt und mich hinstellte. Ein grosser Haufen Glatzköpfe eine kleiner Pseudo-Zaun und dann ich. Mein Plan: Ich wollte mit einem von ihnen reden. Ihn befragen. Warum denkt er so? Wie sieht seine Welt aus? Wie nimmt er sie wahr? Ich habe damals leider gekniffen.

Naiv? Mich treibt die Neugier.

Und wie weit kommt man, wenn man sich stets mit jenen umgibt, die eine tätscheln und verhätscheln?

„Out beyond ideas of wrongdoing and rightdoing, there is a field. I’ll meet you there.“
“Jenseits aller Vorstellungen vom richtigen und falschen Handeln, da ist ein Feld. Da will ich dir begegnen.”
„Doğru ve yanlış fikirlerinin ötesinde bir yer var. Seninle orada buluşacağız.”

Mevlana Celaleddin Rumi

Am Schönsten beschreibt Elizabeth Lesser in diesem TED Talk diesen Gedankengang. Diesen inneren Konflikt zwischen dem „Warrior“ und dem „Mystic“.

(Dieser Text erschien ursprünglich als Kolumne in der Taz, die Ergänzungen auf ein fremdwörterbuch.)

Ein Kommentar zu „Mein Problem mit dem Gesichtsschleier

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