mein mutiges Inklusionsprojekt

Eine meiner letzten Vortragsfolien hatte den Titel “ewige_r Abweichler_in oder Erklärbär_in?” und während ich mich auf den Vortrag vorbereitete, dachte ich darüber nach wie traurig es ist, dass mir tatsächlich keine dritte Option eingefallen war. Weil die dritte Option an der Stelle “der normale Mensch” gewesen wäre und das eine kackscheißige Option gewesen wäre. Normativ. Anti-inklusiv.
N_orrrrrr_male Ausweichmöglichkeit derer, die glauben möchten, man könne seine Behinderung ab und anschalten, je nachdem was man tut oder nicht tut oder wie sichtbar man damit umgeht. Ein Leben mit Behinderungen hängt aber nicht davon ab, wie man sich entscheidet oder welche Einstellung man selbst hat – es hängt davon ab, welche grundlegenden Einstellungen das Umfeld gegenüber Menschen mit Behinderungen/Behinderten und dem Miteinander allgemein hat.

Grundlegende Einstellungen sind übrigens etwas anderes als Vorurteile.
Während Vorurteile in der Regel sehr bis extrem starre, irrationale und negative Einstellungen sind, die sich jedweder Beeinflussung widersetzen, handelt es sich bei grundlegenden Einstellungen um einen Rahmen aus positiven und negativen Bewertungen, gefühlsgebundenen Haltungen und Handlungsoptionen in Bezug auf soziale Objekte.

Heißt: die meisten Menschen haben eher eine schwierige Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen/Behinderten und brauchen mehr oder weniger viel Kontakt und Auseinandersetzung mit dem Thema, wenn es darum geht ein respektvolles Miteinander entstehen zu lassen.
Aber was bedeutet das konkret?

Ich merke oft, dass Menschen meine Behinderungen woanders verorten als ich selbst und, dass es häufig dieser Umstand ist, der mich vor der Wahl “Abweichler_in” oder “Erklärbär_in” stehen lässt.
Ich bin eine durch organisierte Gewalt komplex traumatisierte Autistin*, die auf Hartz 4 lebt, einer religiösen Minderheit angehört, als weiblich kategorisiert wurde und Krampfanfälle hat.
Für mich sind das alle meine Behinderungen. Viele Menschen in meiner Umgebung denken aber, dass es die Krampfanfälle – vielleicht noch die Traumafolgen und der Autismus – sind, die mich behindern.

Es gibt verschiedene Modelle zur Definition von Behinderungen. Manche gehen davon aus, dass die Behinderung immer in einer Eigenschaft der Person verankert sein muss. Weil die Person irgendetwas “nicht kann” und so der Schluß ist: “Ja klar behindert Nichtkönnen beim Leben.”.
Dann gibt es das Modell, das sagt, dass die Behinderung in den Bedingungen der Umwelt verankert ist, nach der eine Person auch Dinge nicht “können” müssen bräuchte, um am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Dort entsteht der Schluß: “Eine Rampe muss her, damit Rollstuhlnutzende nicht draußen warten müssen.” oder auch “Wir starten jetzt ein mutiges Inklusionsprojekt und bauen alle Vorurteile ab – dann wird das alles schon.”.

Eine soziologische Definition (Cloerkes 1988,87) sagt unter anderem aber: “Ein Mensch ist “behindert”, wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist.”.
Na? Kommt irgendwie vertraut vor, oder?

Erwartungen speisen sich aus verschiedenen Aspekten menschlichen Lebens und bilden die Haltung mit der Menschen letztlich auch aufeinander treffen.

Ich habe vor ein paar Tagen beschlossen meine Erwarten gegenüber Menschen, die sich als nicht behindert erleben, zu verändern. Mein mutiges Inklusionsprojekt ist, mich mehr und mehr an Menschen anzunähern und mit ihnen zu sein.
Ich frage mich, ob es für mich irgendwann mal üblich und unspektaktulär sein kann mit anderen Menschen zusammen zu sein und sie weder als Abweichler_innen meiner inneren Normen und Wahrnehmungen, noch als Erklärbär_innen einer mir so fremden Welt zu erleben.

4 Kommentare zu „mein mutiges Inklusionsprojekt

  1. Liebe Hannah,
    vielen Dank, dass du hier nochmal die Rolle der „Erklär-Bärin“ übernommen hast. Dein Text lässt mich wirklich im positivsten Sinne nachgrübeln. Ich bin ein bisschen darüber gestolpert, dass du deine Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit als Behinderung auffasst. Auch in Verbindung mit der Definition von Cloerkes – kann man religiöse Zugehörigkeit als „unerwünschte Abweichung von Erwartungen“ verstehen? Oder meinst du die unerwünschte Zuordnung zu einer religiösen Minderheit von außen (im Sinne von ‚deine Familie stammt aus einem muslimisch geprägten Land, darum bist du Muslima‘)? Ich bitte um Aufklärung!
    Liebe Grüße, Friederike

  2. Hallo Frederike,
    hm, ich weiß nicht ob das wirklich so generell ist, wie ich das empfinde – das vorweg.
    Ich erlebe es so, dass es allgemein eher nicht so cool ist religiös zu sein/zu leben und dann passieren auch noch Rassierungen aufgrund bestimmter Religionszugehörigkeiten. Wenn man vor mir steht hält man mich für eine weiße Christin (Erwartung: weiß, westlich, christlich) – wenn man weiß, dass ich jüdisch lebe erfolgt eine Abweichung – oft innerhalb einer sowieso schon eher unerwünschten Abweichung.
    Darauf wollte ich hinaus in dem Text. Ich fänds schön, gäbe es koschere Lebensmittel im Supermarkt, hätte ich gesetzliche Feiertage an den hohen jüdischen Feiertagen uvm. – es gibt viele Barrieren und strukturelle Diskriminierungen, die für mich sehr ähnlich gelagert sind, wie die Barrieren und Diskriminierungen, die ich in Bezug auf behördlich anerkannte Behinderungen erlebe.

    Ist deine Frage beantwortet?
    Viele Grüße
    Hannah

  3. Liebe Hannah,
    danke für die Erklärung. Ja, ich glaube schon, dass ich es jetzt ein bisschen besser verstehe. Es ist eine sehr weite Auffassung von Behinderung. Was ja passend wäre als Gegenstück zu dem sehr weiten Inklusionskonzept (was ja leider oft recht verkürzt/beschränkt wahrgenommen wird). Die Frage ist für mich ein bisschen, wo die Grenze verläuft zwischen einer gewollten und einer ungewollten Abweichung von Erwartungen. Deshalb meine Frage nach der religiösen Zugehörigkeit, die ich bei mir selbst als gewollt erlebe (wenn auch die negativen Reaktionen darauf nicht gewollt sind). Wahrscheinlich kann man diese Grenze ohnehin nicht klar definieren.
    Liebe Grüße
    Friederike

  4. Liebe Frederike,
    ich würde nicht nach einer Grenze schauen, sondern nach der Frage, warum welche Erwartungen da sind und warum es was mit einem selbst macht diesen entsprechen oder nicht entsprechen zu wollen.
    Es gibt ja auch Menschen, die sich für ein „Abweichler_innenleben“ entscheiden, weil sie keine Kraft (mehr) haben, ständig zu erklären (also den Dialog zu suchen und mit Menschen zu sein) oder weil sie es ablehnen, dass dies der derzeit einzige Weg ist eine Daseinsberechtigung für sich zu etablieren oder weil sie sagen: „Ph, ich bin ich und das reicht für mich“.
    da aber jede Entscheidung im Kontext der jeweiligen Gesellschaft getroffen wird bzw. dann in diesem Kontext gelebt werden muss, ist es meiner Ansicht nach wichtig zu schauen, welche Erwartungen warum da sind und was es bedeutet sie zu enttäuschen oder zu erfüllen.

    Viele Grüße
    Hannah

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