Kinder reden über Sex – vielleicht sogar mit Erwachsenen

Bücher zum Thema Sexualität, die sich an Kinder richten, gibt es inzwischen einige.  Ein Buch wie DAS machen?, das vierte gemeinsame Bilderbuch von Christine Aebi (Illustrationen) und Lilly Axster (Text), ist mir bisher allerdings noch nicht begegnet. Das liegt vor allem hieran: Das Buch erzählt über von Kindern gesetzte Themen und stellt in erster Linie Fragen – und zwar Fragen, die real existierende Kinder zu verschiedenen Aspekten von Sexualität tatsächlich hatten – anstatt Fragen zu beantworten, von denen erwachsene Büchermacher_innen glauben, dass Kinder sie spannend finden oder weil man meint, dass Kinder diese oder jene Auskunft benötigen:

„[Die meisten Bücher zum Thema] stellen nach unserem Wissen ausnahmslos den Informationsaspekt ins Zentrum. Das bedeutet immer auch einen Gestus des Erklärens und Vermittelns von erwachsenen ExpertInnen an mehr oder weniger unwissende kindliche LeserInnen. Wir sprechen die Kinder als ExpertInnen in Sachen kindliche Sexualität an“

Im Interview mit diestandard sagt Autorin Lilly Axster, die auch als Mitarbeiterin der Wiener Beratungsstelle „Selbstlaut“ gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche tätig ist:

„Fast alle Aufklärungsbücher gehen von zwei Themen aus: erstens Geschlechtsverkehr und Kinderkriegen – das ist natürlich auch sehr interessant, aber trotzdem weit weg von der eigenen kindlichen Sexualität. Und zweitens wollen sie den Kindern sagen, wie aus ihrer Sicht Sexualität für die Kinder später, wenn sie erwachsen sind, sein wird. Es gibt wenige Bücher, die sich damit auseinandersetzen, was Kinder in ihrer Sexualität tatsächlich beschäftigt: Von Neugierde, Intimität, Schamgrenzen, Geschlechterrollen und Sich-Selbst-Berühren bis hin zur Frage, welche Kleidung und Frisur ich trage.“

Zum Aspekt des Ernst nehmens gehört auch, dass Sexualität hier nicht pseudo-locker mit anbiederndem Hey-wir-können-doch-ganz-easy-über-alles-reden!-Gestus „verkauft“ wird.

Durch die vielen offenen Fragen und die anregenden Illustrationen erzeugt das Buch einen hohen Grad von Interaktivität: Nicht jedes Kind wird zu jedem Zeitpunkt jede im Buch aufgeworfene Frage spannend finden oder gar auf dieselbe Weise beantworten, und das gilt sicher auch für ggf. mit- oder vorlesende Erwachsene. Auf diese Weise ermöglicht das Buch Menschen mit verschiedenen Sichtweisen auf Sexualität, das Buch mit Gewinn zu lesen, zumal es auch dazu inspiriert, weitere Fragen zu stellen – und Antworten zu finden, die sich für eine_n selbst richtig anfühlen.

Auch die umfangreiche Website zum Buch hat es in sich: Neben Infos zum Buch und dessen Entstehungsgeschichte gibt es ein Videobilderbuch, weiterführende Links oder eine Liste der schwierigen/verdächtigen Wörter. Auf der Website sind ebenfalls keine klassischen Antworten von Expert_nnen zu finden, sondern überwiegend Antworten, die Kinder sich im Rahmen von Schulprojekten oder anderen Zugängen erarbeitet, die sie erfunden und verstanden haben.

Eine weitere Besonderheitvon DAS machen?: Sexualität wird ohne permanenten Bezug auf die geschlechternormative Matrix besprochen. Es wird nicht nur darauf verzichtet, die Geschlechter(rollen) der Protagonist_innen bestimmend für die Erzählung zu machen, sondern vor allem auch darauf, wie in „Aufklärungsbüchern“ üblich vom vermeintlichen default setting des romantischen und „biologischen“ gegenseitig Auf-einander-Bezogenseins von Frauen und Männern auszugehen. Desweiteren wird der weit verbreitete Irrtum, „rein biologisch“ gebe es nur zwei Geschlechter, richtig gestellt.

(Kleiner Exkurs: Das höchste der Gefühle, was  – abgesehen von Unsa Haus –  zumindest mir in diesem Zusammenhang bisher begegnet war, ist der Abschnitt über „Regenbogenfamilien“ im preisgekrönten und prinzipiell ziemlich prima Buch Alles Familie! – Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten – schade nur, dass trotz des Anspruchs, die Vielfalt der Lebensformen, wie Kinder sie täglich erleben, affirmativ darzustellen, in Sachen Begehren auch dort offenbar in Norm und Abweichung gedacht wird und nur das vermeintlich Abweichende  – lesbisch und schwul – entsprechend markiert und benannt wird. Es gibt hier ausschließlich Männer und Frauen, und mit der Zweierbeziehung hört die sexuell_romantische Beziehungsvielfalt im Buch dann auch auf. Zumindest aus meiner – relativ normgerechten – Perspektive ist Alles Familie! definitiv eins der lebensnahesten Kinderbücher, die ich kenne. Aus den genannten und anderen Gründen wird das wohl nicht allen so gehen.)

Fotografie des Buchcovers

Auch wenn DAS machen? von einer (fiktiven) vierten Klasse handelt, ist es laut der Macherinnen für 8- bis 11jährige, aber auch schon für jüngere und ebenso für Jugendliche geeignet.

8 Kommentare zu „Kinder reden über Sex – vielleicht sogar mit Erwachsenen

  1. Ich habe das Buch im Dezember für meine Tochter gekauft und finde es auch ganz toll. Ihr habe ich es noch nicht gegeben, da ich kurz davor schon ein anderes (Peter, Ida und Minimum) Aufklärungsbuch gekauft hatte und das Thema nicht so ausreizen wollte. Daher kann ich noch nicht von ihrem Reaktionen berichten.

    An den herkömmlichen Aufklärungsbüchern hat mich schon die Unehrlichkeit gestört. Beim Sex ist dann das Grossartigste wenn dabei ein Kind entsteht, dabei ist es ja oft das grösste Dilema das zu verhindern. Das muss meine Tochter ja auch dringend wissen.

    Und dann natürlich das Stereotyp: Sex gibt es nur bei einem heterosexuellen Liebespaar, Sex ohne Liebe, zu mehreren, alleine, mit wem auch immer bleibt ausgeklammert.

    Ich packe „DAS machen“ doch mal die Tage aus und biete es mit meiner Tochter an. Bin gespannt, wie sie es findet.

  2. Wow! Das liest sich richt, richtig gut. Ich lese mir gerade die Liste mit den schwierigen Wörtern durch und bin endlos begeistert davon, wie die Worte erklärt werden. „Pubertät“ oder „trans“. Ich glaube, ich werde mir das Buch zulegen. Der Stil, wie die Worte erklärt sind, ist echt grandios. Den Ansatz, Aufklärung tatsächlich aus der Perspektive der Kinder zu betreiben, diese zu Wort kommen zu lassen und nunmal auch die Themen zu behandeln, die für Kinder relevant sind und Sexualität als mehr zu begreifen denn „Babys machen“ ist wirklich längst überfällig.

    Ein unglaublich schöner, emanzipatorischer Ansatz! Ich habe mich letztens noch mit einer Freundin darüber unterhalten, zu was für traumatisierenden Erlebnissen es eben auch während der Kindheit kommen kann, wenn Erwachsene ihre Sicht auf Sex über das kindliche Erleben stülpen. Wenn ein Junge und ein Mädchen, zwei Freunde eben, sich balgen und kitzeln und dabei die Klamotten ausziehen (Logik dahinter: Ohne Stoff auf der Haut fühlt sich das Kitzeln besser an), dabei „erwischt“ werden und ärger dafür bekommen, sich das Gefühl einschleicht, sie hätten etwas falsch gemacht. Weil die Erwachsenen aus ihrer Perspektive mit der Situation nicht umgehen konnten und sie (falsch) sexualisierten.

    @Nicola. Peter, Ida und Minimum hatte ich auch. Fand ich richtig gut! Ist halt etwas auf den reproduktiven Akt fixiert und gerade wahrscheinlich für Kinder interessant, die ein Geschwisterchen bekommen. Wobei ich es als Einzelkind auch spannend fand. =)

  3. bisschen off topic, aber kann mir in diesem Zusammenhang vielleicht jemand sowas wie ein Aufklärungsbuch für Erwachsene empfehlen, dass mit biologistischen geschlechtsstereotypen auräumt und Regenbogenfamilien erklärt?

  4. Ja, die Dokterspiele. Musste mir da auch erst überlegen, wie ich darauf reagiere, da meine Tochter das sehr ausgiebig praktiziert.

    Ich mir dann überlegt, was mir wichtig ist und ihr erklärt: es sollten alle Beteiligten Spass haben (nein heisst nein), es sollen keine Gegenständer irgendwo reingesteckt werden und es soll im diskreten Rahmen stattfinden, also im Kinderzimmer und nicht im Hof.

    Wenn ich merke, es geht zur Sache (Türe zu, Stille, Rolladen runter, leises Gekicher) bleibe ich drausen oder klopfe an. Wenn ich reinplatze entschuldige ich mich und gehe gleich wieder, denn schliesslich ist es ihre Intimsphäre, in die ich nicht eindringen will. Das passt so für mich und für sie glaube ich auch.

  5. @Jane: Make Love: Ein Aufklärungsbuch von Ann-Marlene Henning und Tina Bremer-Olszewski – würde ich empfehlen. ein kritikpunkt könnte sein, dass alle Körper sehr schön sind und somit keinen Körpervielfalt entstehen kann. leider.

  6. @Nicola:

    Für die Kleineren ist das bestimmt ein gutes Buch. Ich habe letztens auch nach einem Aufklärungsbuch gesucht – allerdings für meinen 10-jährigen Sohn. Mir viel das Buch „Den Geheimcode des Körpers kennen“ von http://harri-wettstein.de auf. Es geht auch auf speziellere Themen ein, die – wie ich finde – auch behandelt werden sollten. Jetzt liest es gerade mein Sohn und stellt schon einige interessante Fragen.

  7. @Lina: Stutzig macht mich allerdings, dass Wettstein – dessen Hauptanliegen offenbar die Verbreitung nichthormoneller Verhütung wie die symtpothermale Methode ist – davon spricht, dass Verhütungsirrtümer „durch die Medien und die Genderpriesterinnen in die Gehirne der jungen Frauen eingetrichtert werden“ – Genderpriesterinnen? Ich kann nur spekulieren, was er damit meint – möglicherweis Feministinnen? Die sind ja meines Wissens eigentlich nicht dafür bekannt, der Pharmaindustrie nach dem Mund zu reden und sog. natürliche Verhütungsmethoden zu verschmähen… Lässt mich etwas verwirrt zurück :)

  8. Also Herr Wettstein kommt mir aber auch nicht ganz koscher vor. Was hat er gegen Selbstbefriedigung? Und woher weiss denn er, ob für uns Frauen die Penisgrösse des Partners eine Rolle spielt oder nicht? (Size matters! oder wie Michèle Roten so schön sagt: so nett sind die Männer mit uns ja auch nicht.) Und Verhütung nach der Zyklusmethode und das auch noch für junge Mädchen? Also für sexuell impulsive Menschen funktioniert das nicht (meine erste Tochter ist nach der Methode entstanden…!).

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