Ich, ich gehöre hierher

Groß und gerade steht Nazim, etwas breit. Seine gebräunte Haut ist ledrig, die Zähne vergilbt vom Rauchen. Mit seinen tiefschwarzen Augen beobachtet er aufmerksam die Menschen um ihn herum. Nazim ist angekommen. Als sich die Türen öffnen und er seinen Bruder hinter der Absperrung am Berliner Flughafen entdeckt, steckt Nazim seine goldene Halskette unters Hemd. Der Bruder braucht sie nicht sehen.

Zusammen betreten sie die Wohnung des Bruders. Es riecht nach türkischem Gebäck und Essen. Sein Blick schweift über die arabischen Kalligraphien im Flur und bleibt an dem Kopftuch seiner Schwägerin hängen. Sie nickt ihm zu und lächelt. Er öffnet seinen Mund, um etwas zu sagen, und schließt ihn gleich wieder seufzend. Es lohnt sich nicht.

Beim Abendessen stochert die Schwägerin lustlos auf ihrem Teller herum. Nazim und sein Bruder reden über die Kindheit und Fußball. Keine gefährlichen Themen. Als sie ihnen ausgehen, wartet Nazim noch einen Moment und bedankt sich dann für das Essen. Jetzt schnell.

Umgezogen steht Nazim an der Tür zum Wohnzimmer. Er hebt die Hand zum Abschied. Sein Bruder, der mit Tee, Mandeln und gesalzenen Sonnenblumenkernen auf ihn wartete, eilt ihm überrascht nach. Er guckt Nazim wortlos an. Du bist doch erst heute aus der Türkei gekommen. Willst du dich nicht ausruhen? Wortlos schaut Nazim zurück. Ich bin nicht wegen dir hier, das weißt du.

Draußen knöpft Nazim sein Hemd auf. Die goldene Kette kommt zum Vorschein. Praktizierende muslimische Männer tragen kein Gold. Rückständige tragen kein Gold.

Ich bin hier, sagt Nazim sich. Endlich. Nur um hier zu sein, ist Nazim in der Türkei auf die Polizeischule gegangen. Irgendwann als Kommissar würde er mit einem yesil pasaport, dem grünen Pass für hohe Beamte, Europa bereisen. In die Wiege der Moderne wollte Nazim. Und ausgerechnet sein Bruder lebt hier.

Der rückständige, religiöse Bruder. Er hatte sich in die Tochter der deutschtürkischen Familie, die jeden Sommer in der Nachbarwohnung lebte, verliebt und war mit ihr nach Berlin gezogen. Seit acht Jahren lebt er mit seiner Familie hier, während Nazim in einer kleinen Stadt an der Westküste der Türkei Streife fuhr. Ich, ich gehöre hierher.

Nazim ignoriert die türkischen Imbisse, den libanesischen Supermarkt, das italienische Restaurant. Das, das, das nicht. Das ist es auch nicht. In einer Seitenstraße, endlich, entdeckt Nazim eine Kneipe. Als er die Tür öffnet, weht ihm eine Alkoholfahne ins Gesicht. Nach Bier riecht es hier. Ein bisschen klebrig ist es von dem Frittierten, das verkauft wird. Er setzt sich an den hintersten Tisch des Raumes und bestellt. Trinkend, trinkend und trinkend beobachtet er.

Die korpulente Frau hinter der Theke mit dem lauten Lachen. Ihr rotes Unterhemd zeigt einen tiefen Ausschnitt, der immer weiter rutscht, wenn sie lacht. Und der Mann, der sich weit über die Theke lehnt, macht weiter Witze. Der alte türkische Mann mit dem vernarbten und eingefallenen Gesicht, der seit Ewigkeiten vor ihm sitzt und ihm sein Leid erzählt, schnappt sich sein Glas. Nazim lacht.

Dieser Text ist in der taz als Kolumne veröffentlicht worden.

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