Heterokultur in Zeiten von Grindr

Frederik bloggt auf  Techno Candy und twittert auch.

„Der niederländische Künstler Dries Verhoeven hatte in Zusammenarbeit mit dem Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) in der Aktion ‚Wanna Play? Liebe in Zeiten von Grindr‘ über die schwule Dating-App Grindr zu anderen Männern Kontakt aufgenommen und diese Chat-Gespräche für Zuschauer lesbar an eine LED-Wand projiziert. Dass die Dialoge ebenso wie ihre Profilfotos veröffentlich wurden, wussten die Gesprächsteilnehmer nicht.“ (Morgenpost)

Was dann geschah: Grindr-Nutzer_in Parker versetzte Dries einen Faustschlag und machte online gegen die Kunstinstallation mobil. Das HAU veranstaltete am Sonntag eine Diskussion, zu der über 300, teils wütende, Menschen auftauchten, und beendete danach das Projekt vorzeitig.

Eines der Anliegen von Dries war offenbar, dass durch Onlinedating der Kontakt zwischen schwulen Männern oberflächlich werde. Dries, im Ernst?

Cruising ist schon immer™ Teil der queeren und vor allem schwulen Kultur gewesen. Anonymen Sex gibt es immer, die Orte an denen er stattfindet und an denen sich die Leute suchen und finden können, verändern sich mit der Zeit. Cruising-Kultur und andere Elemente queeren Socializens stellen nach wie vor eine Bedrohung der christlichen, bürgerlichen Familienwerte dar.

So scheint mir „Liebe in Zeiten von grindr“ eine Mischung aus dem hinter Mitgefühl verstecktem Vorwurf, dass schwule Männer™ keine Family Values suchen (sondern nur oberflächliche Ficks) und dem neugierigen Sezieren einer der Heterokultur vorenthaltenen Geheimgesellschaft. Schon lange flüstern sich Heten auf Schulhöfen, in Kaffeepäuschen und durch den Telefonhörer zu, was sie für verruchte Geschichten über grindr und vor allem dessen Nutzer_innen gehört haben. Endlich kommt mal jemand und hält die Taschenlampe drauf!Endlich werden all unsere klemmigen Hetenfragen an diese Schwulen™ beleuchtet!

Sollen Leute, die diese App zum Cruisen nutzen, eines Besseren belehrt werden, nämlich den keuschen Freuden des Pfannkuchenbackens? Sollen Leute lieber mit einem weißen cis Typen über Philosophie quatschen als ihm Fotos ihrer Genitalien zu schicken ? Wieso? Wieso ist das besser? Wieso glaubt Dries, dass die Leute sich heimlich, innerlich doch irgendwie nur wünschen, mit jemand (das heißt: mit Dries!) reden zu dürfen?
Kuscheln, kochen und Kinderplanung statt anonym cruisen – wieso? Ich kann es nur immer wieder fragen, wieso? Welche Werte stecken hinter so einem Projekt? Wer soll sich mit dem Blick des Künstlers identifizieren? Wie undurchdacht ist ein solches Projekt? Und seit wann ist die Perspektive eines weißen europäischen cis Typens interessant, nur weil er auf Typen steht? Als Mann Männer zu begehren macht noch lange keine interessante Perspektive, keine radikalen Erkenntnisse aus schwulen Communities oder gar schwules bzw. queeres Geschichtsbewusstsein.
Und nur ohne jenes Geschichtsbewusstsein lässt sich so eine Schnapsidee auch nach der Ausnüchterung immer noch unbedarft verfolgen.

Mich erinnert die johlende Menschentraube vor Dries‘ Installationsbox in Kreuzberg, die von vielen Betroffenen grindr-Nutzer_innen geschildert wurde, an die Reaktionen auf den Hollywood-Charakter der Sissy. Eine männliche Figur, die zu schwul to be true sein sollte, girly, schwuchtelig, tuntig, nicht ernst zu nehmen und eine Erheiterung für (hetero-) Mann und Frau! Die Sissy ist, ebenso wenig wie der alte Kumpel Heterosexismus, nicht ausgestorben, sondern hat sich weiterentwickelt. Nicht umsonst wurde noch dieses Jahr mit der Komödie G.B.F. – Gay Best Friend die Objektifizierung und Stereotypisierung schwuler Menschen parodiert.

Welches Schwulenbild und welches Selbstbild steckt hinter diesem Versuch, zu zeigen, dass Schwule auch Menschen sind? Wem muss das gezeigt werden? Schwule, Lesben, Heten und alle Anderen wissen am besten selbst, wer sie sind. Schwule haben, wie Lesben, Heten und alle Anderen, kaum Möglichkeiten, der Warenförmigkeit, Leere und Einsamkeit ihrer Existenz zu entrinnen. Schwule, wie Lesben, Heten und alle Anderen, brauchen keine Nachhilfe in traditionellem Mensch-sein, wie Dries es sich (voller Nostalgie? Mich schüttelt es!) ersehnt.

Nicht so lustiger Funfact: Auf grindr hängen nicht nur schwule cis Typen ab. Auf der Plattform lässt sich unter anderem die Option trans auswählen und nach trans Personen suchen. Sehr viele trans Frauen sind auf grindr unterwegs, auch einige trans Männer und non-binary trans Personen. Häufig fällt die Diskriminierung von trans Personen, insbesondere trans Weiblichkeiten noch gewaltvoller aus als die, die schwule cis Männer erfahren. Dieser Aspekt macht die Fahrlässigkeit, die der Missbrauch einer anonymen Plattform dieser Community mit sich bringt, nur noch deutlicher.

PS: Dries ist übrigens schon früher durch Einfallslosigkeit und die daraus entstandene Instumentalisierung von Menschen aufgefallen: Er stellte Menschen im Glaskasten aus und bot eine Art Safari in das „Niemandsland“ durch das Hamburger Bahnhofsviertel an.

5 Kommentare zu „Heterokultur in Zeiten von Grindr

  1. Danke für den tollen Text, Frederik!!!

    mir fällt auf, dass du in teilen andere kritikpunkte hast als ich. wahrscheinlich habe ich dries verhoevens motivation zu diesem „projekt“ anders verstanden. ich dachte, er würde damit auch kritisieren wollen, dass cruising auch eine reaktion auf heterosexualisierte räume ist, in denen schwules begehren tabuisiert wird und dass grindr das weiter aufrecht erhält. (letzteres kann natürlich nicht verantwortlich gemacht werden für die tabuisierung) kritik auf dem rücken von betroffenen zu formulieren, die auch nur für die menschen als kritik erkannt wird, die die kritik teilen, ist grundsätzlich problematisch. die meisten heten verstehen doch gar nicht, dass sie zum tabuisieren schwuler kultur beitragen durch die normalisierung und selbstverständlichkeit ihrer eigenen heterosexualität.
    es ist völlig unklar, wen verhoeven adressiert mit seiner installation… entweder es ist eine inner community kritik, dann hat sie dort artikuliert und verhandelt zu werden, oder aber es ist eine kritik an der heterosexuellen gesellschaft, dann darf sie aber nicht betroffene der lächerlichkeit preis geben… und das tut diese installation, solange sie in einem heterosexualisierten raum stattfindet.

    besonders spannend an deinem text fand ich diesen aspekt. du schreibst: „So scheint mir “Liebe in Zeiten von grindr” eine Mischung aus dem hinter Mitgefühl verstecktem Vorwurf, dass schwule Männer™ keine Family Values suchen (sondern nur oberflächliche Ficks) und dem neugierigen Sezieren einer der Heterokultur vorenthaltenen Geheimgesellschaft.“

    da musste ich auch sehr lachen. wie lange gibt es die kritik vor allen dingen an weißen gay cis typen (und weißen cis menschen generell, die sich als nicht-hetero verstehen), dass sie sich an den werten der weißen heterosexuellen gesellschaft orientieren mit ihren politiken (z.B. gay marriage) und damit auch zur fortführung staatlicher gewalt gegen alle beitragen, die nicht in das raster des weißen hetero mann/frau passen. ich finde weiße schwule/lesbische/bi kultur in schland total nationalstaatliche heterosexuelle werte affirmierend. immer geht es erstmal um assimilation, um dazu gehören, um normal sein und nicht um befreiung von eben diesen ideologien und denkmustern.

    seit wann widersprichen sich denn family values und oberflächliche ficks? doch nur in der denke von heten oder besser gesagt im rahmen einer heterosexuellen bürgerlichen ideologie samt ihrer tabuisierung von sexualität generell. und selbst wenn… was wäre so schlimm daran, nicht eben diese familienwerte zu affirmieren, sondern „oberflächliche ficks“?

    diese installation ist nichts weiter als eine wiederholung des heterosexuellen blicks auf „den schwulen mann“. was selbst an lust und wünschen nicht (sexuell) ausgelebt werden kann, weil es in weißer heterosexueller bürgerlicher kultur tabuisiert wurde, wird auf diesen prototypen projiziert, der zugleich abgewertet wird als „triebgesteuert“ und verkommen/verdorben, ohne festen halt. ich mein, wozu haben nicht-heten denn sonst sex? wenn sex nicht der reproduktion dient, dann kann er nur aus gelüsten heraus erfolgen. LOL (mal ganz davon abgesehen: who needs reproduktion? warum sollte es in so einer welt überhaupt ein wert sein, sich zu reproduzieren? wer darf/soll/kann reproduzieren? Cis-Sexismus à la nur Heten können Kinder machen) völlig widerliche sexualmoral das.

    ich kann mir auch gut vorstellen, dass sich ein paar Heten an der Installation belustigt haben, der grölende Mob steht für mich nicht nur für = Hihi, guck mal die Schwuppen, sondern auch für den Ausdruck eines wohligen Gefühls, die eigenen Sex-Fantasien auf der Projektionsfläche des schwulen Mannes (TM) ausleben zu können. Eigentlich ein Hetenprojekt das ganze!

    Wie du schon in der Überschrift feststellst. Großartig.

  2. Für alle, die Interesse haben: am 15. Oktober (also nächsten Mittwoch gibt es im HAU eine weitere „abschließende“ (well, maybe not??) Diskussion. Mehr Infos plus halbe Non-Apology hier >> http://english.hebbel-am-ufer.de/download/7876/20141007_notice_by_hau_hebbel_am_ufer_on_the_closure_of_dries_verhoeven_s_wanna_play_en.pdf

    Das Blog Kleinerdrei hat das Verhoeven-Projekt auch nochmal aus einer datenschutzrechtlichen Perspektive beleuchtet
    >> http://kleinerdrei.org/2014/10/datingportale-sind-keine-glashaeuser/

  3. was mich so interessiert ist, ob sich menschen gedanken gemacht haben, woher „cruising“ kommt? die dauerhafte kriminalisierung, verfolgung, tabuisierung und gewalt gegenüber nicht-hetero begehren hat sicherlich anteil. Ein nicht heteromensch konnte in zeiten von §175 partnerInnen* nicht in heterosexuellen räumen treffen ohne gefahr für leben und freiheit fühlen zu müssen. Dass sich partnerInnenwahl, begehren und sexualität dann also in klandestine bereiche, (die (hoffentlich) nicht von unterdrückern frequentiert werden) verlagert werden ist klar.
    super stumpf gesagt: wenn mensch ansgt haben muss für hirs existnet eingeknastet bis totgeschlagen zu werden, wird mensch hiren liebesmensch sicherlich nicht in der disse oder beim tanztee finden, in einer welt, die ja heteroraum per se und damit lebensgefährlich ist.

    das kann dann super von dieser welt&gesellschaft genutzt werden, um nicht-heteros zu othern*, zu sagen „die grenzen sich ja ab, müssen also ab“normal“/pervers irgendwie“falsch“ sein, weil sie sich abgrenzen“ Die regeln dieser räume, werden dann als argument für die perversität der menschen genommen..

    *ich schreibe nicht heteros, weil das kürzer ist als homo/bi/pan/omni/poly/trans/a/sexuell-und weil diese gruppen als konzepte, als gegensätze von der gesellschaft/hegemonie definiert werdeb, als „Normal“ und die anderen. das zu beschreiben ohne auf begriffe zuzugreifen ist nicht einfach

Kommentare sind geschlossen.

Betrieben von WordPress | Theme: Baskerville 2 von Anders Noren.

Nach oben ↑