Es ist Zeit, Realität als real zu betrachten

Jayrôme C. Robinet ist freier Autor und Spoken Word-Künstler. Gender fluid mit Variationshintergrund, weiß, wird in Deutschland meistens als Person of Color gelesen, Akademiker aus einer bildungsbürgertumsfernen Familie und besitzt die französische Staatsbürgerschaft. Auf Jayrômes Blog veröffentlicht er Gedichte, Analysen und Gedanken in schriftlicher und audio_visueller Form in französischer, deutscher und englischer Sprache. Der nachfolgende Text ist ein Crosspost

(c) Kasia Matejczuk
(c) Kasia Matejczuk

Sehr geehrte Dr. habil. Heike Diefenbach und Michael Klein,

Sie haben einen Brief  an die Humboldt Universität und an den Berliner Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft verfasst: « Profx Lann Hornscheidt von der Humboldt-Universität entfernen ».

Lann Hornscheidt, Profx für Gender Studies und Sprachanalyse am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin, sei mit sofortiger Wirkung von der Universität auszuschliessen.

Warum?

Weil Lann Hornscheidt unterschiedliche Möglichkeiten entwirft, Sprache so zu verändern, dass Sprachhandlungen nicht diskriminierend sind. Weil Lann Hornscheidt praktische Vorschläge für geschlechtsneutrale Formulierungen macht, die Alternativen zum binären System bieten.

So z.B. die x-Form statt der herkömmlichen „er“ und „sie“, oder die x-Endung eines Wortes statt der üblichen gegenderten Wortendung.

Das haben Sie sicherlich im Leitfaden der AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin nachgelesen: “Was tun? Sprachhandeln – aber wie? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit. Anregungen zum antidiskriminierenden Sprachhandeln”, der im Frühjahr 2014 erschienen ist.

Sie schreiben, dass Lann Hornscheidt dabei nicht nur eine wissenschaftliche Position missbraucht, um den eigenen Spleen auszuleben, sondern auch « eine verbale Vergewaltigung harmloser Studenten durchführe, die zur Sprach-Konformität mit Lann Hornscheidt gezwungen und auf diese Weise der normalen Welt entfremdet werden ».

Ertens: Der V*rg*w*lt*g*g-Vergleich ist, gelinde gesagt, sehr problematisch. Oder wenn Sie wollen: ziemlich unwissenschafltich.

Zweitens: Ich fürchte, dass es sich da um ein kleines Missverständnis handelt.

Lassen Sie uns dieses bedauerliche Verständnis-Versehen ausräumen.

Bei der x-Form handelt es sich nur um einen Vorschlag, wie Lann Hornscheidt der FAZ erklärt:

Ich hänge aber nicht an der x-Form. Wenn andere Leute andere Vorschläge haben, freue ich mich darüber. Ich teile auch viele Kritikpunkte, zum Beispiel, dass diese Form nicht schön ist.“ Es müsse jedoch möglich sein, dass Menschen, die sich nicht als Männer oder Frauen fühlen, dies sprachlich ausdrücken können. Hornscheidt betont außerdem, dass es überhaupt nicht darum gehe, Geschlechter abzuschaffen. „Ich halte das weder für sinnvoll, noch steht es in meiner Macht. Aber natürlich fordert es Menschen heraus, wenn sie lernen, dass es auch noch etwas anderes als Frauen und Männer gibt. Ich verstehe auch, dass sie das erschreckt. Aber das kann doch auch spannend sein. Für mich fehlt dieser Gesellschaft die Bereitschaft, Differenzen stehen zu lassen.

Gute Nachricht

Folgendes möchte ich Ihnen feierlich ankündigen:

Mein erstes Buch in deutscher Sprache wird im Frühjahr 2015 erscheinen.

Und? Was geht Sie das an?

Moment.

Ja, richtig … mein Buch wird durch Lann Hornscheidt veröffentlicht.

Wenn ich darüber nachdenke, wirft mein Herz Konfettis in die Luft, pustet Luftschlangen und pfeift auf Luftrüssel. Bis jetzt habe ich die erfreuliche Nachricht nur an die kleine Glocke gehängt, weil ein Rest Aberglaube mir zuflüstert, solange das Werk nicht auf dem Markt ist, ist nichts sicher …

Aber nun erzähle ich Ihnen das mit dem Buch, auf die Gefahr hin dem Aberglaube zu verfallen, weil ich denke, Sie werden sich über Folgendes freuen:

In diesem Buch werden Sie binäre Formulierungen zum Lesen bekommen, sowie „man“ Sätze, auch die Pronomen „jemand“ und „niemand“, die zwar als geschlechtsneutral gelten, aber in Relativsätzen häufig mit dem maskulinen Relativpronomen auftreten, so dass ihre Neutralität in Frage gestellt werden kann. Noch besser: In diesem Buch habe ich die von Lann Hornscheidt vorgeschlagene x-Form NICHT verwendet.

Nein. Lann Horscheidt hat nicht versucht, mich dazu „aufzuwiegeln“, „Interventionen’ für eine unverständliche Sprache durchzuführen“. Lann Hornscheidt hat die von mir bevorzugten und ausgewählten Wendungen nicht und nie hinterfragt.

Dass Lann Hornscheidt so angesprochen und angeschrieben werden möchte, wie x will, ist selbstverständlich, und das wollen Sie auch.

Ideologische Propaganda

Sie schreiben, dass Universitäten keine Orte der ideologischen Propaganda seien, dass  Lann Hornscheidt ideologische Propaganda betreibe und Studenten um sich schare, die nach dem Durchlaufen einer sprachlichen Aufnahmeprozedur in den Kreis des Lann Hornscheidt-Sprachkults aufgenommen werden.

Interessant.

2013 hörte ich bei einer Podiumsdiskussion über Sexismus und Homophobie in der Musik, organisiert von der Kampagne Make Some Noise, einen Vertreter der Musikindustrie, der versuchte zu erklären, warum große Plattenlabels lieber in sexistische und schwulenfeindliche als in aufklärerische und emanzipatorische Künstler*innen investieren. Das verkaufe sich einfach besser, sagte er, er habe auch keine Ahnung warum, das sei einfach so, vielleicht liege es daran, dass aufklärerische Musik zu didaktisch vorkomme, also langweilig und anstrengend und nicht unterhaltsam genug sei.

Dabei fiel mir auf, dass die Dichotomie „unterhaltsam“ versus „didaktisch“ nicht funktioniert.

Denn: alles ist didaktisch.

Unterhaltung ist ein anderes Wort für spielerisches Lernen einerseits. Und Unterhaltung ist ein anderes Wort für das leichte Üben, Wiederholen, Vertiefen und Stabilisieren des bereits Gelernten anderereits.

Ich erkläre Ihnen das kurz.

Wenn ich etwas als „didaktisch“ einstufe, meistens, weil ich den Eindruck habe, auf etwas Neues zu stoßen, das ich erstmal begreifen muss, um das dann lernen zu können. Das kann ja mühsam und anstregend vorkommen. Nach Feierabend will ich selten etwas neues lernen sondern möchte mich entspannen, d.h.: Ich möchte das bereits Erlernte anwenden (können). Das ist ja „Unterhaltung“.

Als Pädagog*innen wissen Sie das sicherlich:

Üben und Wiederholen sind notwendig zur Sicherung und Vertiefung des Gelernten. Üben muss regelmäßig stattfinden („Prinzip der konsequenten Wiederholung“). Damit ein Schema erlernt und verfügbar bleibt – es also ein stabiles Wissenselement wird – muss es in herausfordernden und anregenden Kontexten immer wieder geübt werden. („Prinzip der Stabilisierung“).

So ist das. Sexistische Musik „unterhält“, weil sie didaktisch anders herangeht bzw. ein anderes Wissen beibringt, ja, weil sie schon verinnerlichte Wissenselemente lehrt. Sie bietet uns die Gelegenheit, ein Gedankengut, mit dem wir bereits vertraut sind, zu üben, zu wiederholen und zu vertiefen. Sie unterstützt uns dabei, zu lernen, was wir sagen und tun sollen, um richtig gut sexistisch zu sein. O ja, nicht nur kleine und schlechte Sexist*innen sondern wie wir die besten sein können. Wenn wir bereits gelernte Dinge immer wieder in neuen Kontexten aufgreifen („Prinzip der integrierten Wiederholung“) – also in anregenden Kontexten wie rhythmischen Songs, Liebesfilmen, Beststeller-Romanen, Werbeplakaten, Zeitungsartikeln, TV-Serien, politischen Debatten, Gesprächen mit Familie und Kumpels, Uni-Vorlesungen – feilen wir an unseren Fähigkeiten zu diskriminieren. Wie aufregend, in einem Fachbereich immer besser zu werden! Und wie empowernd, etwas sofort zu verstehen, das erlaubt so viele Erfolgserlebnisse am Tag, so wie ständig eine 1 zu kriegen.

Das fühlt sich ja dankbar an. Wenig Konzentration, Offenheit oder Energie werden benötigt.

Doch völlig zurecht schreiben Sie:

„Universitäten sind Orte des Erkenntnisgewinns.“

Ja, keine Orte der bloßen Wiederholung vom bereits Erlernten! Sie haben recht! Lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen! Lernen wir neue, weniger diskriminierende Formulierungen! Lassen Sie uns andere Menschen dazu anregen, dies auch zu tun! Oh, wie ich mich freue!

Kult ist nicht gut

Da bin ich ganz Ihrer Meinung. „Universität sind keine Orte, an denen Kulte gebildet und etabliert werden können“. Stellen Sie sich vor, ich würde etwas, z.B. meine Wohnung, nach dem Namen einer berühmten Person benennen, sagen wir mal „Lann Hornscheidt“, und in meinem Schrebbergarten würde ich eine Statue von Lann Hornscheidt errichten … das wäre Personenkult! So geht das natürlich nicht!

Ihren nächsten Brief an den Berliner Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft, in dem Sie eine Umbenennung der Humboldt Universität fordern (wie wäre es mit Universität für seriöse Sozialwisschenchaften und gegen Erkenntnisverluste?) und in dem Sie darauf pochen, dass die Marmor-Denkmäler der beiden Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt vor dem Hauptgebäude der Universität mit sofortiger Wirkung zu entfernen sind, wird mir ein großes Anliegen sein, unterstützend zu unterschreiben.

Zu guter Letzt möchte ich Ihnen das obere Bild von mir widmen, sowie den 69 Menschen, die Ihren Brief bisher unterschrieben haben.

Moment: Eigentlich widme ich dieses Bild Lann Hornscheidt.

Sowie folgendes Gedicht: In der Luft.

In diesem Sinne

mit freundlichen Grüßen

xxx

Jayrôme C. Robinet

***

In der Luft*

Aus dem Herzen frißt der Mund mir sein Blatt: welche Freude.
Lange stieg die Sonne in den Morgen, die Stille in meinen Kopf.
Vor dem Kleidungsladen
das Schaufenster als Spiegel
steigt mein Aug hinab zu meiner Brust:
Ich sehe mich an.
Mein Schweigen beisst mir auf die Lippen,
eine Schneiderbüste sitzt mir im Kehlkopf.

Ich will meinen Körper verkörpern.

Ich steh vor dem Schaufenster,
und schluck mein eigenes Schweigen.
Es ist Zeit, dass meine Schlagadern sich einen Weg bahnen.
Es ist Zeit, dass die Liebe zu mir selbst von beiden Herzkammern zu allen Gliedern strömt.
Es ist Zeit, dass meine Brust sich zu entfalten traut,
dass des Stolzes hunderte Herzen schlagen.
Es ist Zeit, auf das Wort nicht mehr zu warten.
Zeit, Realität als real zu betrachten,
Zeit, sie zu erzählen.

Es ist Zeit, daß es einmal war.
Es wird Zeit, daß es einmal wird.

Es wird einmal.

***

*In der Luft ist von Paul Celan’s Gedicht Corona inspiriert. Danke an Koray Yılmaz-Günay dafür, mir das Gedicht zum Lesen gegeben zu haben.

Ein Kommentar zu „Es ist Zeit, Realität als real zu betrachten

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