Doris Lessings Notizbuch

Dieser Text ist Teil 31 von 140 der Serie Die Feministische Bibliothek

Dies ist ein Gastbeitrag von Antje Schrupp.

Doris Lessing, Notizbuch Doris Lessings Roman „Das goldene Notizbuch“ – erschienen 1962 und eng bedruckte 800 Seiten dick – gilt als feministischer Klassiker. Das ist auch kein Wunder: Beeindruckend und geradezu schonungslos schildert sie die ambivalenten Gefühle und Auseinandersetzungen, in die Frauen verwickelt werden, die sich nicht in die klassischen Rollenmuster fügen. Doris Lessing hat sich jedoch immer über diese Rubrizierung geärgert. Und das kann ich ebenso gut verstehen. Denn dabei wurde leicht übersehen, dass sie sich mit der ganzen Welt beschäftigt und keineswegs nur mit der speziellen Situation der Frauen darin.

Die Hauptfigur, Anna Wulf, ist eine Schriftstellerin, die vor Jahren einen erfolgreichen Roman veröffentlicht hat und noch immer von den Tantiemen lebt. Sie ist Anfang vierzig (wie Doris Lessing selbst, als sie das Buch schrieb) und eine „ungebundene“ Frau mit einer 12-jährigen Tochter – heute würde man sagen, alleinerziehend. Der Roman erzählt Annas Geschichte parallel aus fünf verschiedenen Perspektiven: Einmal tatsächlich als Roman (über sie und ihre Freundin Molly), und dann in Form ihrer vier Notizbücher: „Ein schwarzes Notizbuch, das von Anna Wulf, der Schriftstellerin handelt; ein rotes Notizbuch, das Politik betrifft; ein gelbes Notizbuch, in dem ich aus dem, was ich erlebt habe, Geschichten mache; und ein blaues Notizbuch, das den Versuch eines Tagebuchs vorstellt.“

Im schwarzen Notizbuch ist die rassistische Kolonialgeschichte verarbeitet: Anna Wulfs Bestseller handelt von einer verbotenen Liebesaffäre zwischen einem weißen britischen Soldaten und einer schwarzen Frau. Im Notizbuch erinnert sie sich an ihre Zeit als junge Frau in Afrika, aus der sie das Material dafür schöpfte. Das rote Notizbuch ist eine klarsichtige Auseinandersetzung (und Abrechnung) mit der politischen Kultur der fünfziger Jahre, vor allem in der kommunistischen Partei in England. Das gelbe Notizbuch enthält verschiedene Romanfragmente, und das blaue schildert auf sehr intime Weise die Gefühle, die Anna Wulf in ihren Liebesbeziehungen zu Männern bewegen. Dabei kommen Themen wie Menstruation oder Orgasmus auf direkte, aber verblüffend undramatische Weise zur Sprache.

Ihre Verwicklung in eine destruktive Liebesbeziehung treibt Anna schließlich in einen psychischen Zusammenbruch, aus dem das letzte, das „goldene“ Notizbuch hervorgeht. Darin vermischen sich die vorher so fein säuberlich getrennten Bereiche aus Annas Leben.

Aus heutiger Sicht sind ein paar Dinge irritierend. Zum Beispiel, dass die Protagonistin die „Vereinbarkeitsfrage“ quasi wie nebenbei löst und das für sie offenbar kein Problem darstellt. Oder wie wenig Wert sie auf materiellen Erfolg und eine gesellschaftliche „Position“ legt (zum Beispiel schlägt sie alle Angebote aus, ihr Buch als Drehbuch für einen Film zu vermarkten). Andersherum könnte man aber auch fragen, ob wir heute manchmal zu kleinkariert oder zu streberisch sind und das Große und Ganze – die Revolution, um es pathetisch zu sagen – aus den Augen verlieren.

Jedenfalls ist Doris Lessing viel radikaler, als das, was später in das Projekt „Gleichstellung“ mündete. In ihrem Vorwort zur Neuauflage aus dem Jahr 1971 schreibt sie, sie glaube nicht, dass „die Frauenbewegung viel verändern wird – nicht, weil etwas mit ihren Zielen nicht stimmt, sondern weil es jetzt schon klar ist, dass die ganze Welt durch die Umwälzung, die wir jetzt erleben, in eine neues Muster geschüttelt wird: Möglicherweise werden die Ziele der Frauenbewegung zu dem Zeitpunkt, an dem wir ‚durch’ sind, falls wir überhaupt durchkommen, sehr geringfügig und altmodisch aussehen.“

Lessing selbst wollte dieses „neue Muster“ der Welt verstehen. Sie schrieb „über das Thema ‚Zusammenbruch – dass es manchmal, wenn Leute ‚zusammenklappen’, ein Weg der Selbstheilung ist, ein Weg des innersten Selbst, falsche Dichotomien und Einteilungen abzustoßen“. Anna Wulfs Zusammenbruch ist also keine individuelle Geschichte oder gar ein spezielles „Frauenthema“, sondern er steht für den Zusammenbruch einer alten Ordnung, die unweigerlich vorbei ist, wobei aber noch nicht klar ist, was an ihre Stelle tritt.

Vielleicht ist heute, wo wir es ja ständig mit „Zusammenbrüchen“ aller Art zu tun haben – der Börse, des Friedens, des Klimas – ein guter Zeitpunkt, das Buch zu lesen.

Doris Lessing: Das goldene Notizbuch. Roman. Fischer Taschenbuch-Verlag, 2007. 799 Seiten, 9 Euro 95.

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3 Kommentare zu „Doris Lessings Notizbuch

  1. Das stimmt: Zusammenbruch kann auch einen Neuanfang beinhalten, zu dem man sich ohne die vorangegange Katastrophe vielleicht nie getraut hätte. Ich hatte mal einen Artikel zu Brüchen im Lebenslauf gelesen. Das Thema ist sehr spannend, da ich und viele andere sich so schwer damit tun, Phasen zu ertragen, in denen man sich neu orientieren muss. Danke für den Buchtipp.

  2. Das goldenen Notizbuch ist sehr gut nur schade, dass sie in dem 2007 erschienenem Fantasie Schmöker „Die Kluft“ so sehr abgebaut hat. Eine friedliche Frauenwelt, ohne Sex und liebende Begierden. Wie unrealistisch, langweilig und zwangshetetosexualiert. Der Mann als das „Böse und Sexuelle“ – und die Frau als „rein, keusch und asexuell“. Alles klar. In so einer Welt möchte ich aber nicht leben.

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