„Die Zen-Momente des Lebens“

Dieser Text ist Teil 93 von 115 der Serie WWW Girls

In jeder Folge der WWW Girls stellen wir euch eine Bloggerin und ihr Weblog vor. Heute:

Anarchistelfliege

Wie heißt du?
Im Internet Distel(fliege).

Seit wann bloggst du?
Seit Anfang 2005.

Drei Bloggerinnen mit weißen Laptops auf denen der Venusspiegel prangt, darum der Slogan - Feminists of the WWW: unite

(c) Frl. Zucker, fraeuleinzucker.blogspot.com

Warum hast du damit angefangen?
Ich hatte vorher eine Homepage ins Netz gestellt, die ich auch selbst von Hand gecoded habe. Blogs stand ich ablehnend gegenüber, weil ich fand, dass die Inhalte auf Blogs weniger gut erreichbar sind als auf herkömmlichen Homepages. Es hat mich deshalb geärgert, daß immer mehr Leute ihre Webseiten im Blogformat angeboten haben – bis ich über die unterhaltsamen und spannenden Blogs von anderen (meistens Frauen) auch Lust darauf bekam, zu bloggen. Inzwischen liegt meine Homepage brach und das Blog floriert. Allerdings haben sich auch meine Interessen und die Inhalte, über die ich schreibe, sehr verändert.

Worüber schreibst du?
Zuerst habe ich über Spiritualität, besonders Frauenspiritualität und Göttinnen, modernes Hexentum, meine Hobbies und meinen Alltag gebloggt, das war dann immer auch mit (linken, feministischen) politischen Themen verbunden. Über die Jahre hat es sich dann so entwickelt, dass ich die Hexenthemen irgendwann ausgelutscht fand oder mich einfach mehr mit Anderem beschäftigt habe. Ich fühle mich nicht weniger spirituell, aber ich muss darüber nicht mehr ständig reden. Es geht bei mir zumeist um Textilien und „Crafting“, Stricken, Spinnen, Patchwork, um sowas wie „urbane Selbstversorgung“ wie Gärtnern in der Stadt oder urige Fertigkeiten wie Kochen aus Rohstoffen, Kräuter sammeln.. und öfter mal auch „urban exploring“. Einfach mein Alltag. Linke + feministische Themen kommen leider oft ein bischen zu kurz. In letzter Zeit nutze ich mein Blog, um meinen Podcast „die urbane Spinnstube“ zu veröffentlichen.

Was dir ohne Internet nicht passiert wäre:
Hm – Da hab ich eigentlich keine bestimmte. Es gibt natürlich traurig-komische Geschichten, weil im Internet viele Menschen recht enthemmt kommunizieren, und einem dann gerne persönlich zu nahe treten. Gerade in der Spiri/Hexenszene ist es in, einem völlig unbekannte Menschen ungefragt psychologisch zu beraten, Diagnosen zu erstellen und zu behaupten, man hätte „viele Blockaden“. Mir ist das gelegentlich auch passiert, daß mir völlig unbekannte Typen mir was von meinen Blockaden, meinen früheren Leben und meiner geistigen Verfassung erzählt haben. Habe ich mal feministische Themen, bekomme ich öfter erzählt, was für schlechte Erfahrungen diese und jene Person mit Feministinnen gemacht hat, irgendwann in ihrem Leben – so, als sei ich quasi zuständig für „den Feminismus“ und eine Beschwerdestelle für Unzufriedenheiten mit Demselben.

Das schönste, was mir durch das Internet passiert ist, sind auf jeden Fall die Leute, die ich kennengelernt habe. Man kann im Netz gut Diskussionen führen und dadurch Menschen treffen, die ähnliche Ziele haben und eine ähnliche politische Einstellung – und man kann Leute umgehen, deren Ansichten man untragbar findet, eben weil man sich zuerst im Meinungsaustausch und erst danach (wenn’s passt) persönlich kennenlernt. Ich lebe und arbeite in sogenannten „linken Zusammenhängen“, so daß sich in meinem offline-Alltag die Notwendigkeit zur Aussieberei nicht so ergibt, aber ich möchte halt auch im Netz nicht mit stinkkonservativen Leuten oder Neurechten Händchen halten, nur weil man gemeinsame Hobbies hat oder sich für Naturreligion interessiert. Schon allein deshalb muss ich ab und zu mal linke und feministische politische Themen einstreuen, das hält „falsche Freunde“ fern.

Wovon braucht das Internet mehr:
Im aktuellen Zeitalter von Facebook und Google, würde ich sagen: Dezentralisierung. Dass wieder mehr läuft auf einzelnen Webseiten und Blogs, und dass nicht irgendwann alle nur noch bei Facebook schreiben und die Interaktion im Netz von den großen sozialen Plattformen abhängig wird. Vielleicht ist das aber auch einfach der Gang der Dinge – die Ansprüche an die Interaktivität steigen ständig (auch an mir selbst merke ich das) und statische Homepages sind einfach nur noch der Gähner, Blogs gehen grade noch so, aber mit Giganten der bunten, schnellen Interaktivität wie Facebook kann eine lose Anhäufung einzelner Seiten dann doch nur sehr schwer um Aufmerksamkeit konkurrieren. Dabei finde ich diese Form der Timelines, wie es sie bei Facebook oder Google+ gibt, sehr oberflächlich, blinkebunt und banal.

Frauen* im Web haben…
…die schicksten Food-, Strick- und Fiberblogs. Ich bin oft baff, wie gerade in der Hobby/Craft-Szene mit guter Ausrüstung gemachte hochkarätige Fotografie zum Berichten von „kleinen Alltäglichkeiten“ zum Einsatz kommt. Wegen der Blogs mancher Crafterinnen habe ich mir dann doch eine Spiegelreflexkamera zugelegt und gelernt, sie zu bedienen – wobei es mir (noch) nicht gelingt, _so_ gute Qualität abzuliefern wie ich das oft gesehen habe. Natürlich ist sehr professionell aussehendes bloggen in atemberaubend gestaltetem Layout kein spezifisches Gebiet von Frauen im Web, aber ich als Frau fühle mich eher angesprochen und inspiriert, wenn ich Frauen sehe, die es einfach drauf haben.

Böse Zungen sagen ja, Frauen würden im Web wenig machen, außer ihre Strick-, Food- und Fashionblogs zu führen. Für mich als eine, die ebenfalls strickt und darüber bloggt, ist das auch ein Thema. Es gibt Strickblogs, wo wirklich altbacken immer nur kleine, schlecht gemachte Bildchen von den fünfzigsten Socken für den Ehemann veröffentlicht werden – aber es gibt auch subversive, künstlerische Strickblogs, und es gibt extrem gut gemachte Blogs über die „kleinen Dinge“, über den Bereich des Lebens, der als langweilig und alltäglich gilt und der als solches abgewertet und mit dem Weiblichen assoziiert wird.

Für mich bedeuten Blogs über die kleinen, alltäglichen Dinge, dass ich selbst lerne, mich zu entschleunigen, genauer hinzusehen, nicht alles als selbstverständlich an mir vorbeirauschen zu lassen, sondern die Zen-Momente des Lebens festzuhalten und wahrzunehmen. Und genau das machen gut gemachte Hobby- und Alltagsblogs von mehrheitlich Frauen: Sie lehren eine, hinzusehen, weil sie es vormachen, wie man hinsieht und was man dann sieht. Stricken ist selbst auch so eine Entschleunigung. Im schnellen, lauten urbanen Alltag ist das sehr wohltuend für mich. Ich finde es gut, daß Menschen so bloggen – und das sind oft Frauen.

Deine tägliche Web-Lektüre:
Zur Zeit bin ich täglich auf ravelry.com – das ist eine sehr große Strick- und Fibercraft-Community. Dort gibt es allerdings sehr viele Untergruppen zu allen möglichen Themen. Feministische Gruppen, ökologische Themen, Computergruppen, FahrradschrauberInnen… Der Nebeneffekt dessen, daß Ravelry eine Strickplattform ist, ist der, daß die meisten dort registrierten TeilnehmerInnen Frauen sind. Man könnte sagen, es ist eine mehrheitlich weibliche „Parallelgesellschaft“, wo ich mich mit Anderen über meine Computerprobleme, Fahrradmechanik, Ökologie und was-weiß-ich unterhalten kann, ohne daß nach zwei Postings ein paar Kerle kommen, die alles weitaus besser wissen. Meistens lese ich Artikel, wenn sie mir über Ravelry über den Weg laufen oder über Facebook von meinen FreundInnen „reingereicht“ werden. Ich lese eine ganze Menge Blogs, die meisten sind private Blogs von Bekannten und FreundInnen, und dann natürlich Blogs zu den Themen, die mich interessieren. Ein nettes Gartenblog, über das ich mal gestolpert bin guenstiggaertnern.blogspot.com, ein Alltags-, Craft- und feministisches Blog einer Freundin von mir eidechse.twoday.net, eine befreundete Liedermacherin und ihr Blog
www.troubadoura.de, Bodeceas Palaver, weil sie tiefsinnig und echt gut schreibt, dann lese ich öfter auch hier: theangryblackwoman.com. Interessantes Craftblog mademoisellechaos.blogspot.com und eins meiner liebsten Strickblogs ist knittinganarchist.de.

Tipps und Bewerbungen für die WWW Girls an post(at)maedchenmannschaft.net.

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