Die politische Dimension von Fett

Wenn von dicken Körpern die Rede ist, werden gesellschaftliche Machtverhältnisse verhandelt. Dieser Artikel erschien in der 600. Jubiläumsausgabe der ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis (16.12.2014).

Maggie De Block
Maggie De Block
»Darf eine Gesundheitsministerin übergewichtig sein?« titelte unlängst die FAZ (15.11.2014) und widmete der belgischen Gesundheitsministerin und früheren Ärztin Maggie De Block einen ganzen Artikel – besser gesagt: ihrem Gewicht und ihren Essgewohnheiten. Auch andere Tageszeitungen füllten ihre Spalten mit reißerischen Titeln, stellten Mutmaßungen über Gewicht und Gesundheitszustand sowie die »Glaubwürdigkeit« der Ministerin an. Der Berliner Tagespiegel (20.11.2014) resümiert gönnerhaft, dass De Block Gesundheitsministerin sein dürfe, da sie »ihr Fettsein nicht als größtes anzustrebendes Glück propagiert«. In der FAZ kommt auch der Ehemann De Blocks zu Wort: »Es gibt in der Welt vielleicht schönere Frauen als Maggie, aber für mich ist sie die ideale Frau.«

Es irritiert, dass diese Zeitungen nicht etwa De Blocks jüngste Politiken als Staatssekretärin für Asylpolitik, Immigration und soziale Integration (2011-2014) und deren desaströse Folgen für Asylsuchende in Belgien thematisieren, sondern ihren Körper in den Fokus rücken. Es irritiert auch, dass anscheinend gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht, dass eine dicke Politikerin unmöglich für das Amt einer Gesundheitsministerin geeignet sein kann und männliche Journalisten Zeile um Zeile abwertend über den Körper einer Frau schreiben können, ohne dass ein nennenswerter Aufschrei erfolgt.

Der Körper als Kampfzone

Wir leben in einer Zeit, in der die Angst vor dem Fettwerden gesellschaftliche Normalität ist, in der Kinder in Diätcamps mit minimalster Kalorienzufuhr gesteckt werden und Ärzt_innen FdH (»Friss die Hälfte«) für einen angemessenen Ernährungstipp halten. Wir leben in einer Zeit, in der Lehrer_innen aufgrund eines Body-Mass-Index (BMI) von über 30 in manchen Bundesländern nicht verbeamtet werden können. (1) Wir leben in einer Zeit, in der Diäten, Diätpillen, Magenverkleinerungen und dickenfeindliche Sprüche und ihre verheerenden Auswirkungen auf Körper und Seele für »gesünder« als ein dicker Körper als solcher gilt. Die Fixierung auf einen schlanken Körper und die Angst vor Fett(sein) nehmen absurde Dimensionen an: Die Kompetenzen einer Politikerin werden angezweifelt, weil sie einen dicken Körper hat und nicht etwa, weil sie kritikwürdige politische Entscheidungen in ihrer Berufskarriere gefällt hat. Sexismus, Dickenfeindlichkeit und die Nicht-Thematisierung von rassistischer Politik reichen sich die Hand.

Körperfett gilt als schädlich und soll deshalb nur eins: weg. Bereits die Existenz von dicken Menschen gilt als Störfaktor. Dass De Block mit Fragen zu ihrem Gewicht häufig ironisch umgeht und Gewichtsreduktion nicht zum Mittelpunkt ihres Lebens macht, finden Journalist_innen vermessen. So stellt die FAZ fest, dass sie »eisern zu den Ursachen ihres Übergewichts« schweige – Skandal! Eine Politikerin möchte ihren Körper und die völlig irrelevante Frage nach der »Ursache« ihres Gewichts nicht thematisieren! Wie war das noch mal mit der körperlichen Selbstbestimmung? Wenn dicke Menschen ihren Körper nicht verändern wollen (oder können) und private Details nicht preisgeben möchten, wird der zum Politikum.

Da Körperfett heutzutage durchweg negativ belegt ist und so gar nicht zum neoliberalen Idealbild der tüchtigen Angestellten passt, wird der eigene Körper zur permanenten Kampfzone: Die schwabbelnden Oberschenkel müssen weg und die speckigen Arme gehören versteckt. So schreibt die US-amerikanische Bloggerin und Expertin für Körperbilder Virgie Tovar in ihrem 2012 erschienen Buch »Hot & Heavy« passenderweise: »Mein Fett ist politisch, weil es Leute so richtig sauer macht, wenn ich es zeige. Mein Fett ist politisch, weil ich es behalte«.

Nicht nur die Zeitungsredaktionen wissen kaum bis gar nichts von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Auch in linken, feministischen und queeren Kontexten, in denen gesellschaftliche Verhältnisse – so auch destruktive Schönheits- und Körpernormen – stets kritisiert werden, herrscht eine kaum hinterfragte Grundüberzeugung, dass Schlanksein erstrebenswert und Dicksein schlecht sei. Schlanksein wird mit Normvorstellungen von Gesundheit, einer niedrigen Kalorienzufuhr und Fitness verknüpft, ungeachtet der Tatsache, dass die Lebens- und Essweisen von dicken Menschen genauso heterogen sind wie die von schlanken Menschen. Bei schlanken Menschen wird nur seltener kritisch angemerkt, wenn sie den zweiten oder dritten Burger essen oder die teure Mitgliedschaft im Fitnessstudio zwar das eigene Gewissen beruhigt, jedoch nie zur Anwendung kommt.

So verwundert es nicht, dass auch gesellschaftskritischen Menschen kaum auffällt, dass Dicke und ihre Körper stets als Negativbeispiel fungieren. So manche Feministin sieht ebenfalls keinen Widerspruch darin, Schönheitsideale scheiße zu finden, aber trotzdem »auf ihre Linie zu achten«. Positive, selbstbestimmte Narrative über dicke Körper sind fast gänzlich abwesend in diesen Diskussionen, weil Dicksein stets in Kontrast zu Gesundheit und Leistungsfähigkeit gedacht wird.

Profitable Geschäfte mit den Dicken

Doch woher kommen diese Überzeugungen? Das sogenannte Übergewicht wird laut dem Soziologen Friedrich Schorb diskursiv stets als Krankheit, Epidemie oder Sucht gerahmt, weil es aus dem Rahmen dessen fällt, was medizinisch als »normal« definiert wird. (2) Definitionen von Gewichtskategorien sind keinesfalls objektiv oder zeitlos. Die jetzige Klassifikation des Body-Mass-Index der Weltgesundheitsorganisation besteht seit Mitte der 1990er Jahre. In jener Zeit wurden die Werte, die festlegen, wer »übergewichtig« und somit Teil einer Risikogruppe sei, herabgesetzt und vereinheitlicht. Die neuen Werte hatten in den USA zur Folge, dass über Nacht 35 Millionen Menschen zu sogenannten Übergewichtigen wurden, ohne dass sie ein einziges Pfund zunahmen. Die Kritiken am Messinstrument BMI als Indikator für Gesundheit sind vielfältig: Er nimmt keine Rücksicht auf individuellen Körperbau und reflektiert keine anderen Faktoren, die ebenfalls Einfluss auf Körper und Körpergewicht haben, wie etwa der Zugang zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Sportmöglichkeiten. Doch auch wenn alle die gleichen Voraussetzungen hätten, würden Menschen unterschiedliche Körper haben, weil Körper nun einmal verschieden auf all diese Einflüsse reagieren.

Kategorisierungen aufgrund von Körpergewicht dienen häufig politischen Zwecken: Das Herabsetzen der BMI-Werte ist unter anderem der massiven Lobbyarbeit von Pharmaindustrien zu verdanken, die ihre Diätprodukte verkaufen wollen und damit erfolgreicher sind, je mehr Menschen als »übergewichtig« und somit als potenzielle Kund_innen von Diätprodukten konstruiert werden. In einer Gesellschaft, in der das Funktionieren und die Teilhabe auch über »Gesundsein« konstruiert werden (beziehungsweise über das, was als gesund definiert wird), haben Krankheiten keinen legitimen Platz, sondern gehören bekämpft. Und was kann da besser helfen als der überteuerte Diätdrink, der den schlanken Körper und somit Leistungsfähigkeit verspricht? Selbstoptimierung boomt: Die Diätindustrie erreichte 2013 in den USA ein rekordverdächtiges Umsatzvolumen von 66 Milliarden US-Dollar.

Fit machen für den Kapitalismus

Die negativen Eigenschaften, die mit Dicksein assoziiert werden, sind fast deckungsgleich mit jenen, die anderen marginalisierten Gruppen zugeschrieben werden, die den Anforderungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft nicht entsprechen (können). So sind Zuschreibungen wie »langsam«, »faul«, »schmutzig«, »unsportlich«, »dumm« oder »unmotiviert« stigmatisierend für Dicke, aber meist auch schichtspezifisch und rassistisch belegt sowie an Menschen geknüpft, die der gesunden Norm nicht entsprechen. Deswegen steht bei den Diskussionen um die belgische Politikerin Maggie De Block auch ihre Glaubwürdigkeit im Mittelpunkt: Ist sie überhaupt in der Lage, Leistung zu erbringen und »objektiv« ihres Amtes zu walten? Die Antwort kann nur vernichtend sein, denn ihr dicker Körper, der von den Journalist_innen so demonstrativ in den Mittelpunkt gerückt wird, steht per se für selbstverschuldetes Versagen.

Obwohl die machtvolle Konstruktion des selbstverschuldeten Dickseins untrennbar mit der der selbstverschuldeten »Unterschicht«-Zugehörigkeit verknüpft ist, bleiben auch sogenannte Leistungsträger_innen wie De Block vom Narrativ des »Versagens« nicht verschont. Die Verbindung von Armut mit Attributen wie »fett« und »faul« erfüllt ihren diskursiven Zweck. So erlebte dieses Narrativ genau in jener Zeit Konjunktur, in der die BRD massive Kahlschläge in der Sozialpolitik rechtfertigen musste. Armut als Folge persönlichen Versagens zu imaginieren, nützt den ökonomisch Privilegierten, weil Armut so nicht als gesellschaftliches Problem bearbeitet werden muss.

Der konservative Historiker Paul Nolte befeuerte 2004 mit seinem Buch »Generation Reform« die sogenannte Unterschichtsdebatte, die den Fokus nicht auf materielle Ungleichheit und unterschiedliche Bildungschancen legte, sondern auf angeblich abweichende Verhaltensweisen, die die sogenannte Unterschicht ausmachen. Nicht die massiven Einschnitte im Sozialstaat, nicht das rassistisch strukturierte Bildungssystem erlangten Aufmerksamkeit, sondern die Langzeitarbeitslosen, die Geringverdiener_innen und die Kinderreichen (insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte), die selbst »schuld« an ihrer Situation seien.

Eine Reihe an Reportagen, die dieses Bild bedienen und reproduzieren, wurde in genau jenen Jahren veröffentlicht, in denen auch die Hartz-Gesetze in Kraft traten, die in der SPD-geführten Bundesregierung unter Gerhard Schröder gestaltet wurden. So beschreibt die Autorin Evelyn Roll 2004 in einer Reportage für die Süddeutsche Zeitung den McDonalds-Besuch einer prekär beschäftigten Mutter von zwei Kindern und fasst zusammen: »Viel Fett, viele Kohlehydrate, keine Vitamine. Kein Wunder, dass die drei so fett sind. Macht zusammen 17,64 Euro. Danke sehr. Bitte sehr. Und ab nach Hause vor die Glotze.«

Auf dicken Körpern werden also regelmäßig gesellschaftliche Machtverhältnisse verhandelt – und gleichsam zum Problem des Individuums erklärt. Eine leider recht wirksame Strategie, um sich nicht mit der Bekämpfung von Diskriminierung und sozialen Ungleichheiten zu beschäftigen. Ein Grund mehr, die politischen Diskurse um Fettsein in emanzipatorische, linke und queer-feministische Kämpfe stärker einzubeziehen.

1) »Zu dick fürs Lehreramt«, rp-online.de, 2.2.2007.

2) Friedrich Schorb: Dick, doof und arm. Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert. München 2009, S. 18-57.

Magda Albrecht hält ihren Vortrag »(Mein) Fett ist Politisch« in Osnabrück, Braunschweig, Hamburg, Frankfurt/Main, Heidelberg, Mainz, Lüneburg und Berlin. Infos unter maedchenmannschaft.net/termine.

6 Kommentare zu „Die politische Dimension von Fett

  1. Magda, vielen Dank für Deine körperpolitische Arbeit im Allgmeinen und diesen Artikel im Besonderen!!! Für mich als Frau, die seit fast 20 Jahren zwischen den verschiedenen Körperform-Welten pendelt, sind solche Artikel wirklich Gold wert. Denn sie eröffnen mir immer mehr einen gedanklichen und emotionalen Möglichkeitsraum, mit mir und meinem Körper Frieden zu schließen – wie auch immer er gerade aussieht… Danke dafür.

  2. Eine weitere, allgemeinere Dimension, auf welche kurz im Artikel eingegangen wurde, betrifft den Gesundheitsbegriff. Eine weitestgehend in der Bevölkerung vertretene Auffassung von „Gesundheit“ lässt sich mit „Abwesenheit von Krankheit“ beschreiben – was jedoch Krankheit ist und was nicht obliegt der Definition von Expert*innen. Versteht mich nicht falsch, eine Abrede von objektiv messbaren Aspekten von Krankheit ist nicht in meinem Sinne. Jedoch übergeht dieser Ansatz fast gänzlich den wohl wichtigsten Aspekt von Gesundheit – das persönliche Empfinden und die Zufriedenheit mit dem eigenen körperlichen und mentalen Zustand.
    Krankheit, als absoluter und von außen aufgesetzter Begriff, wird in einer von „Leistung“ angetriebenen Gesellschaft zum Stigma, auf das betroffene Menschen nicht oder nur wenig einwirken können mit der Folge, dass viele Betroffene exkludiert werden.
    Eben diese Exklusion führt zu einem weniger an Gesundheit – Menschen ziehen sich zurück, sind unzufrieden mit sich selbst und versuchen Ursache des Stigmas zu verstecken. So können die Definition „krank“ zu sein und das Stigma sich gegenseitig verstärken mit entsprechend negativem Ausgang für Betroffene.
    Diese Struktur lässt sich bei verschiedenen, als „krank“ geltenden Zuständen beobachten und zeigt, wie sehr unser vermeintlich privatestes doch politisch zu sein scheint…

  3. “ Auch in linken, feministischen und queeren Kontexten, […] , herrscht eine kaum hinterfragte Grundüberzeugung, dass Schlanksein erstrebenswert und Dicksein schlecht sei. “

    Jupp. Meine persönliche Erfahrung damit: Personen verknüpfen meinen Körper schnell mit anderen szeneinternen (Gesundheits-)Tabus. Mir wird vorgeschlagen, ich sollte endlich „Bio“ kaufen und vegan essen. Jemandem diese Vorschläge zu machen finde ich gar nicht an sich doof, aber mir fällt auf, dass anderen Personen nicht erzählt wird, „wie gut man damit abnehmen kann“ oder „wieviel schlanker [Name] geworden ist, seit er vegan lebt“.

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