Das Selbstgespräch brechen: Perspektiven auf Asyl von ehemaligen Geflüchteten

Elif Kücük ist Photographin und studiert Geschichte im Masterstudiengang an der Freien Universität Berlin. Findet sie auf ihrem Blog http://castorxpollux.com/ und auf Instagram unter @castor__pollux

Sinthujan Varatharajah ist Doktorand in Political Geography am University College London. Findet ihn auf Twitter unter @varathas oder auf Facebook unter Sinthujan Varatharajah.

Folgender Beitrag erschien zuerst auf medium.com. Wir posten ihn hier mit freundlicher Genehmigung.

Elif Kücük & Sinthujan Varatharajah. Photograph: Ngoc Anh Ha

Deutschland wird in der sogenannten “Flüchtlingskrise” innerhalb der Europäischen Union bisweilen eine geradezu vorbildliche Führungsposition zugesprochen. Während andere Staaten mit strukturellem Widerwillen und gar militärischer Gewalt auf die Geflüchteten reagierten, schien Deutschland bis vor kurzem Grenzen und Gewissen für Tausende geöffnet zu haben. Die große Welle der Wohltätigkeit erreicht derzeit öffentliche wie auch private Räume. Die vergangenen Monate werden wohl in Zukunft als “Sommer der Flüchtlinge und der großen Solidarität” in Erinnerung bleiben. Eine vermeintlich wohlverdiente Nostalgie.

Monatelang haben die deutschen Medien ausführlich Entwicklungen und Geschehnisse bezüglich der Geflüchtetenfrage kommentiert. Die meisten dieser Kommentator*Innen waren in der Regel weiße Journalist*Innen, Politiker*Innen, Migrationsforscher*Innen oder freiwillige Helfer*Innen. Die Stimmen von Geflüchteten waren stets eher Randnotizen. In den seltenen Fällen, in denen sie zu Wort kommen durften, wurden diesen nur wenige Zeilen oder bestenfalls Sekunden gewährt. Geflüchtete sollten in ihrer eigenen Narrative vor allem als Bekräftigung des Konsens der Mehrheitsgesellschaft über sie dienen. Sie sind nicht die Erzähler*Innen, sondern das Erzählte.

Flüchtlingslager Burgkunstadt, 1988

Wir als Kinder von ehemaligen politischen Asylsuchenden, die selbst in den 80er und 90er Jahren in deutschen Ayslbewerberheimen gelebt und das System von innen erfahren haben, möchten eine andere, wichtige Perspektive auf diese Debatte liefern. Es ist weder unsere Absicht, als Repräsentant*Innen oder Sprecher*Innen einer als homogen gedachten Gruppe von Menschen mit Asyl- oder Fluchterfahrung zu sprechen, noch maßen wir es uns an, im Namen der heutigen Geflüchteten zu schreiben. Unsere Intention ist es, eine Diskussion über die vorherrschenden Machtverhältnisse innerhalb dieser Debatte anzuregen und die vorhandenen Lücken innerhalb des Diskurses zu benennen.

“Braucht Deutschland Flüchtlinge?”, auf diese Frage versuchten bisweilen die deutschen Medien immer wieder eine Antwort zu geben und versäumten es dabei, diese als profitorientiert und egoistisch zu entlarven. Stattdessen wird mit dem Geburtenrückgang, dem Aussterben von deutschen Städten, dem Arbeitskräftemangel und der Entlastung der Sozialkassen für Zuwanderung argumentiert. Geflüchtete sind also willkommen, da sie nützlich sind, nicht zuletzt als Auszubildende, Fachkräfte und Steuerzahler*Innen. Doch was ist mit den Analphabet*Innen, den Alten und den psychisch und physisch Kranken? Sind diese nun weniger “rettenswert”, weniger willkommen? Steht denn das Asylrecht nicht jeder*m zu, die*er Schutz und Zuflucht sucht? Wie kann denn die Berechtigung eines solchen Grundrechts daran bemessen werden, inwiefern ein Mensch für das jeweils asylbietende Land von Nutzen wäre?

Kanzlerin Angela Merkel möchte ihrem Image als “Wirtschafts- und Flüchtlingskanzlerin” entsprechend Asylpolitik und wirtschaftlichen Nutzen theoretisch gut verbinden. Während andere europäische Regierungen Mauern bauten, die Grenzkontrollen wieder einführten, um Geflüchteten die Einreise zu erschweren, reagierte Merkel zunächst mit Zuversicht und Pragmatismus. Jedoch ist an dieser Stelle zu überprüfen, inwieweit die hoffnungsvollen Reden der Kanzlerin Umsetzung innerhalb der Asylpolitik finden, hat doch auch Deutschland mittlerweile gemäß eines Beschlusses vom 13. September, pünktlich zum Beginn des Oktoberfests, die Kontrollen an den Grenzen wieder eingeführt. Damit schließt sich Deutschland eindeutig an die Abschottungspolitik von Ländern wie Ungarn, Großbritannien und Dänemark an.

Zweifellos wäre die Situation der Geflüchteten in Deutschland ohne die freiwillige Hilfe aus der Zivilbevölkerung angesichts der überforderten, unterbesetzten und inkompetenten Behörden und der Bürokratie garavierender als sie es bereits ist. Mag auch die Bundesregierung bislang öffentlich für Menschlichkeit und Solidarität pläderieren und international als Vorreiter im Westen in der sogenannten “Flüchtlingskrise” gesehen werden, hatte sie schon im Juli diesen Jahres die umstrittene Reform des Aufenthaltsgesetztes beschlossen. Damit sollen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie Geflüchtete, die falsche oder unvollständige Angaben bei ihrer Registrierung gemacht haben, fortan schneller abgeschoben werden können. Dies ist die erste offizielle gesetzliche Regelung, die die Flucht illegalisiert, werden doch die Betroffenen in diesen Fällen klar als Straftäter behandelt.

Deutschland blieb auch am 06. September in seiner harten Asylpolitik konsequent, als sich dessen Regierung im Koalitionsausschuss auf ein Maßnahmepaket, das “Fehlanreize beseitgen” möchte, einigte. Um künftig Geflüchtete vor einem Asylantrag in Deutschland abzuschrecken, sollen die Betroffenen nicht mehr drei, sondern sechs Monate lang in Erstaufnahmelagern wohnen müssen und die Residenzpflicht, die in Bayern und Sachsen-Anhalt fortgehend erhalten geblieben ist, wieder bundesweit eingeführt werden. Zudem dürfen die Asylsuchendenen nur noch Sachleistungen statt Bargeld erhalten. Wie Pro Asyl es richtig erkannte, handelt es bei diesen restriktiven Beschlüssen um soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung. Menschen, die Zuflucht und ein menschenwürdiges Leben in Deutschland erhoffen, werden sichtbar entmündigt und diskriminiert.

Bayernkaserne. Photograph: dpa

Diese Politik ist keine Neuheit, sondern eine direkte Kontinuität der 90er Jahre. Unsere Familien mussten noch mit Gutscheinen in ausgewählten, meist nur einem einzigen Supermarkt einkaufen, Pakete mit Essensrationen annehmen oder gar in Kantinen ausgeschenkte Speisen essen. Um den Landkreis verlassen zu dürfen, mussten sie Anträge stellen. Bürokratische Hürden und Einschränkungen definierten ihren Alltag öffentlich wie auch privat. Die persönliche Entscheidung über die Ernährung oder die freie Mobilität innerhalb des Landes, welche für so viele Menschen eine Selbstverständlichkeit bedeutet, war damals nicht gegeben und soll auch heute wieder nicht gestattet sein. Diese Gesetzgebungen verfolgen auch dann ein bekanntes Muster, wenn sie auf die Welle der Gewalt gegen Asylbewerber*Innen mit Kompromissen reagieren, die letztlich die Opfer bestraft, aber nicht die rassistischen Täter*Innen. Geflüchteten das Asylrecht nur in Verbindung mit persönlichen und rechtlichen Einschränkungen zu gewähren ist ein gefährliches Zeichen, welches den rechten Populismus nur noch erstarken lässt und ihn in seinen “Sorgen” und “Befürchtungen” bestätigt. Unterstellt denn nicht der deutsche Staat automatisch selbst jeder*jedem Geflüchteten einen “Asylmissbrauch”, wenn er Vorkehrungen gegen eine potentielle unberechtigte Nutzung des Asylrechts trifft?

In diesem Jahr wurden die höchsten Zahlen rassistischer Angriffe gegen Geflüchtete seit der Wiedervereinigung verzeichnet. Der rechte Terror hat in den vergangenen Monaten eine entscheidende Grenze überschritten: Zu Beginn wurden mehrheitlich noch unbewohnte Gebäude angegriffen mit der Absicht den geplanten Einzug von Asylsuchenden zu verhindern, doch im Verlauf des Jahres wurden Anschläge bewusst auf bewohnte Heime mit der Intention zu töten verübt. Rassismus hat nun eine Form angenommen, in der rechter Protest aus ganzen Familien besteht und rassistische Kommentare ohne Zurückhaltung online unter klaren Identitäten veröffentlicht werden. Als Gegenpol dazu werden die tausenden freiwilligen Helfer*Innen genannt, mit deren Engagement sich das Land klar abgrenzen möchte von Hass und Intoleranz. Tatsächlich ist die Antwort der deutschen Bevölkerung sehr unterschiedlich. In den Medien, national wie auch international jedoch wird diese in zwei klar von einander getrennte Lager geteilt, ohne aber die vorhandene Wechselbeziehung zwischen ihnen zu beachten.

Die Bemühungen innerhalb Deutschlands sich von rechter Gesinnung zu distanzieren reproduziert dabei aber häufig klassistische Diskriminierungsmechanismen. Niedriger Schulabschluss, mangelnde Intelligenz, Rechtschreibschwäche oder Hartz IV werden kurzsichtig und arrogant zu Gründen für Rassismus erklärt. Diese Selbstgerechtigkeit erlaubt es zudem zu glauben, die “intelligenten” und “gebildeten” Bürger*Innen seien immun gegen Rassismus. In diesem Sinne wird eine vereinfachte Binarität kreiert, die die Gesellschaft in “gute weiße Deutsche” und “schlechte weiße Deutsche” teilt. Bundespräsident Joachim Gauck sprach hier sogar von “Dunkeldeutschland” und “helles Deutschland”. Diese Begriffe wurden von den kommerziellen Medien zitiert, um Helfer*Innen und gewalttätige Angreifer*Innern einzuordnen. Die problematische und rassistische Dimension der Hell-Dunkel-Gegenüberstellung in einer Debatte über weiße Angreifer*Innen, weiße Retter*Innen und Geflüchteten of Color bleibt jedoch weitgehend unbeachtet. Es wird auch nicht verstanden, dass sowohl der Akt des Helfens als auch der des Angreifens Machtstrukturen unterliegen und nicht zuletzt auch ein Gegenstand der Gunst und der Launen der Mehrheitsgesellschaft sind.

Die rechte Gewalt, die öffentlich von der deutschen Politik verurteilt, jedoch von der selbigen gleichzeitig durch populistische Rhetorik provoziert wird, deutet auf das Innere des Asylsystems hin. Brennende Asylunterkünfte verbildlichen nicht nur die Verwundbarkeit der Asylsuchenden, sondern bezeugen auch ein verfallenes System. Die Asylunterkunft als Idee in ihrer Architektur, örtlichen Lage, und Politik ist ein viel zu leicht vorhersehbares Ziel gewalttätiger Übergriffe. Doch ist auch eben diese Beschaffenheit politische Strategie. Deutschland ist das Land, das Konzentrationslager in seinen Kolonien in Deutsch-Südwest-Afrika errichtete, und dessen Erbe die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die Besetzung durch die alliierten Mächte und die deutsche Teilung bis heute nach der Wende überlebte. Lager werden auch heute als angemessene Disziplinierungsstätte angesehen, um darin marginalisierte Menschen unterzubringen.

Wie der Kolumnist Leo Fischer hervorhebt, sind diese eine sozialdemokratische Version der Konzentrationslager. Viele von diesen Institutionen, welche verharmlosend “Heim” genannt werden, sind ehemalige militärische Einrichtungen oder gefängnisähnliche Räume. Der Gedanke hinter der Unterbringung von kriegsgebeutelten und traumatisierten Menschen in militärischen Räumen wie z.B. dem ZAE in Nürnberg Zirndorf oder der Bayernkaserne in München ist mit einer “Willkommenskultur” nicht zu vereinbaren. Diese Einrichtungen sind bewusst gewählt, die schlechten Zustände und Konflikte, die außerhalb dieser Unterkünfte nicht so leicht existieren könnten, klare Absicht. Die Bewohner*Innen sollen sich unwohl und nicht willkommen fühlen. Mit der derzeitigen Unterbringung von Geflüchteten im ehemaligen Konzentrationslager Dachau schliesst sich nun auch der chronologische Kreis, der die deutsche Lagergeschichte mit der Gegenwart verbindet.

Flüchtlingslager Jena-Forst, 1996

Das Trauma der Geflüchteten hört also mit ihrer Ankunft an einem Bahnhof mit freundlicher Begrüßung, Bretzeln, Schuhen und Flaschen Wasser nicht auf. Sie erleben eine erneute Vertreibung durch eine Überschneidung aus Entrechtung, Paternalismus, Verkindlichung und institutionellem Rassismus. Vertreibung geschieht unter anderem auch direkt durch den Verteilungsmechanismus, auch Königssteiner Verteilungsschlüssel genannt, mit dem Ziel die Körper der Geflüchteten aus den Stadtzentren in die ländlichen Peripherien zu zerstreuen und sie dadurch endlich in die Unsichtbarkeit zu verschieben. Die meisten Asylsuchenden müssen zudem in vielen unterschiedlichen Einrichtungen wohnen. Rastlosigkeit, Isolation und ein auferzwungenes provisorisches Leben lassen keinen Raum für persönliche Interessen oder eine sozioökonomische Entfaltung.

Das Lager ist eine Form von Gewalt, die auch unsere Familien erfahren haben. Je zwei und fünf Unterkünfte haben unsere Eltern gemeinsam mit uns bewohnen müssen bis ihnen schließlich der gesetzliche Aufenthaltsstatus gewährt wurde. Heute sind wir, die Kinder von damals, Besitzer*Innen der deutschen Staatsbürgerschaft und dennoch keine gleichberechtigten Teilhaber*Innen dieser Gesellschaft. So wie auch die der heutigen Geflüchteten, bleiben auch unsere Perspektiven und unser Erlebtes der Interpretation weißer Stimmen überlassen. Die Erinnerungen an das Leben im Asyl tragen wir in uns fort. Das Beunruhigende hierbei ist, das jene Erfahrungen mit uns oder anderen Asylsuchenden aus den 80er und 90er Jahren nicht aufgehört haben, sondern auch heute noch systematisch weiter gelebt werden müssen.

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