Critical Whiteness und das Ende der Sektstimmung

Katrin Rönicke betreut beim FREITAG ihre Bildungskolumne. Dort hat sie just ein Buch vorgestellt, das sie einige Zeit beschäftigt hat: Noah Sows „Deutschland Schwarz Weiß“. Sows Buch entfaltet das Thema „Alltagsrassismus“ anhand vielzähliger und diverser Beispiele – es ist ein Buch, das keinen methodologischen Regeln im akademischen Sinne folgt. Und das muss es auch nicht. Das Werk bewegt sich außerhalb des Paradigmas, das institutionalisiertes Wissen nur mit dem exakten Stempel durchwinkt. Und das ist wahrscheinlich sehr gut so. Die Empirie ist stark, und es gelingt aufzuzeigen, wie sehr Rassismus und Alltagsrassismus sämtliche unserer Strukturen durchziehen: Mikromechanismen werden sichtbar. Es wird klar, dass Rassismus in unserem Land kein Problem irgendeines Zentralapparates ist, der sich mit einer bestimmten Intention für seine Ausübung entscheidet, sondern dass er in jeder Ecke unserer Gesellschaft heimisch ist. Ü-ber-all. In jeder Faser des Alltags.

Es gibt keine Rassismus-befreiten Zonen. Punkt.

Kulturell, sozial, politisch, ökonomisch: Es gibt keine Rassismus-befreiten Zonen in Deutschland. Das ist das Resümee des Buches, und es schmerzt vielleicht manchen (weißen) Leser_innen noch mehr, wenn ihm_ihr dann auch noch direkt mitgeteilt wird, dass auch er_sie ständig an den vielzähligen Mikromechanismen mitwirkt, ob er_sie es will oder nicht. Weil er_sie nicht anders kann. Nicht weil er_sie sich individuell dafür entschieden hätte, rassistisch zu sein, sondern weil jede_r (von uns) personale_r Mittler_in der strukturellen Widersprüchlichkeiten ist – auf welche Art, in welcher Ausprägung auch immer.

Und Rönicke hat nun also einigermaßen unter Sows Buch gelitten. Vor Veröffentlichung ihres Textes („Du sollst Deine Leser nicht beschämen„) hat sie schon bei Twitter erste Einschätzungen verlauten lassen und ihrem Unwohlsein Luft gemacht. „Schwierig“ finde sie die Theorie der „Critical Whiteness“ schreibt sie in ihrem Text:

„Sie ist schwierig, weil sie davon ausgeht, dass eigentlich alle Weißen nicht anders können, als Rassisten zu sein. Der Feind ist überall und dabei wird es schnell undifferenziert und einseitig. Um diese Haltung zu sichern, wird sich des Konzepts der „Definitionsmacht“ bedient, das vermeintlichen Opfern zuspricht, alleine darüber zu bestimmen, wann Handlungen als Gewalt und Diskriminierung zu benennen sind. Das nutzt Noah Sow, versagt damit aber den Lesenden den Respekt, wenn sie schreibt: „Das haben Sie jetzt alles gelesen und finden das wahrscheinlich ebenso schlimm wie ich. Sie wissen aber immer noch ganz genau, dass Sie kein Rassist sind. Woher? Weil Sie keiner sein wollen. Da habe ich leider eine schlechte Nachricht für Sie…“ und nun folgt eine Auflistung an Fakten des Alltagsrassismus in Deutschland (in dem wir ja zugegebenermaßen alle aufgewachsen sind), die unweigerlich dazu führten, dass weiße Deutsche per se privilegiert seien.“

Rönicke möchte natürlich keine Rassistin sein. Keiner möchte das. „… dass weiße Deutsche per se privilegiert seien“, – das löst einen Abwehrmechanismus aus. Warum? Weil Rönicke Noah Sow unterstellt, sie hätte vielleicht nicht gesehen, dass es auch unprivilegierte Weiße gibt? Natürlich gibt es die, und ich denke, Noah Sow wäre die letzte, die diesen in ihrem Werdegang nicht begegnet wäre – Anlässe gab es schließlich genug. Was Rönicke sich vielleicht nicht vorzustellen mag ist, dass die gesellschaftliche Verortung in einem sozialen Raum immer mehreren Dimensionsebenen unterliegt. Was sie sich – obschon sie Pädagogin ist – vielleicht nicht vorstellen kann: Multidimensionalität. Vielleicht hat sie es einfach vergessen?

Sozialer Raum und Kapital vs. „Bei-mir-war-das-aber-so-und-so“

Im Grundstudium habe ich mich wie viele andere zum ersten Mal mit Pierre Bourdieus Theorien beschäftigen müssen. Die Tragweite seiner Ideen und wie sie mein eigenes Denken prägen sollten konnte ich damals nur erahnen – auch wenn man vieles an Bourdieu selbstredend mittlerweile staubig oder auch nicht hundertprozentig zutreffend finden kann. „Die feinen Unterschiede“ („La distinction. Critique sociale du jugement“wurde uns auf die Lektüreliste gesetzt, zudem ein Abriss seiner Kapitaltheorie, die wir für die Zwischenprüfung durchkauen sollten.

Wenn ich nun an die kulturellen Abgrenzungsmechanismen zwischen gesellschaftlichen Schichten denke, die Bourdieu in „Die feinen Unterschiede“ meisterlich herausgearbeitet hat, dann wird mir klar, warum Rönicke sagt: Es tut mir leid, aber ich finde, ich bin keine Rassistin. Weil sie es muss. „La distinction“ wird für jeden Bildungsbürger, für jedes Subjekt, das sich als reflektiert und offen und problembewusst empfindet – und so wird es uns schließlich eingebläut – zur Folge haben, dass man das Label „Ich, Rassist?“ jederzeit mit einem „Nein.“ quittieren muss. Weil der Habitus es vorgibt. Es geht nicht um individuelle Verhaltensmuster, die bewusst ausgewählt werden können, sondern um limitierte Praxisformen und Verhaltensstrategien.

Und deswegen ist es auch egal, das Rönicke schreibt: „Nein, Noah Sow kennt mich nicht.“ Denn Noah Sow muss niemanden persönlich kennen, um festzuhalten, dass man in Deutschland nicht frei von rassistischem Gedankengut aufwächst.

Bourdieus Kapitaltheorie. Auch sie ist heute mit Sicherheit streitbar, da sie verkürzt und zum einen selbst eingebettet ist in ein Denksystem nord-westeuropäischem Weißseins. Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, symbolisches Kapital. Runtergebrochen übersetzt: Geld, Bildung, Kontakte, Prestige. Das „Weiße“ der Theorie entpuppt sich in der Tat zum Beispiel im Termini „Kulturelles Kapital“ an der Stelle, in der es um „inkorporierte Kulturcodes“ geht. Dass diese existieren ist nicht abzustreiten. Warum unterschiedliche Kulturcodes zu vermeintlichen Missverständnissen führen können/sollen (und in welchen Kontexten, in welchen Bewertungsmustern), wird jedoch kaum behandelt. Das war aber auch nicht Bourdieus Intention – führt aber dazu, dass die Theorie als Gesamterklärungsmodell für das Herstellen von Gesellschaft jedoch nicht hundertprozent tauglich ist.

Wohin man die Variable „nicht-weiß“ (und ähnlich gelagerte, bspw.: Migrationshintergrund) packen kann, müsste für Bourdieus Kapitaltheorie noch ausgelotet werden – er hat sie nicht bedacht, obschon im Frankreich der 70er Jahre auch ethnische Zuschreibungen eine Rolle gespielt haben dürften. Ich ordne sie der Einfachheit halber im „symbolischen Kapital“ ein, auch wenn dies nicht der glücklichste Ansatz sein dürfte. Dennoch – ausgeklammert werden dürfen sie auf keinen Fall.

Es reicht aber allemal, um nochmal darauf hinzuweisen, dass Rönickes Argument „Es gibt auch diskriminierte Deutsche“ nicht ausreicht, um damit zu versuchen, die Tragweite von Rassismus abzuschwächen. Das Privileg des „Weißseins“ bedeutet nämlich in diesem Falle nichts anderes, als das die Verortung im sozialen Raum insofern anders stattfindet, wenn die Variabel „nicht-weiß“ nicht ins Gewicht fällt. Für alles andere gibt es noch die anderen Dimensionen, und darum soll es gehen, wenn man wünscht, Hegemonien aufzuzeigen. Multidimensionale Erklärungsmöglichkeiten statt „Bei-mir-war-das-aber-so-und-so“.

Der Wissenserwerb, so fährt Rönicke fort, sei durch Unwohlsein gescheitert:

Ich fühlte mich dennoch nicht wohl. Ich wollte lernen und wurde wegen meiner Hautfarbe unter einen Generalverdacht gestellt. Dabei habe ich als Pädagogin eigentlich das Gegenteil verinnerlicht: Die wirklich guten LehrerInnen respektieren ihre SchülerInnen – das ist doch die Grundvoraussetzung für Lernen und eine gelungene Bildungsbeziehung!

Diese Sätze werden dann zum Hohn, wenn man sich anschaut, wie Rönickes Rezension verpackt ist: Mit einer Headline, die ihresgleichen sucht, darunter das Bild Sows, im Text zudem die subtile Unterstellung, Sow wolle gar keine Bildungsarbeit leisten, sondern sich an ihrem Generalverdacht gegenüber weißen Deutschen abarbeiten, den sie fehlgeleitet entwickelt habe. Dass eine Abhandlung über Rassismus in Deutschland vielleicht keine Kuscheldeckenveranstaltung sein kann, dass es Sow absolut egal sein muss, wie „wohl“ sich der Leser_innen fühlt – das spielt hier keine Rolle mehr.

Das Ende der Sektstimmung

Sicher, man kann am Konzept der Critical Whiteness vieles kritisieren. Ich habe es auch schon getan. Und natürlich leidet die Treffsicherheit eines Konzepts, wenn es aus dem amerikanischen Raum auf Zustände übersetzt wird, in denen auch Antisemitismus und Rassismus gegenüber Muslimen einen hohen Stellenwert haben. „Du sollst Deine Leser nicht beschämen“ jedoch ist nicht mehr als das Abwatschen der Wissensproduktion einer Frau, die im Gegensatz zu Rönicke weiß wovon sie redet.

Rönickes Text hat mich beschämt – vor allem aber auch, weil es mich an die größte Schwachstelle von „Deutschland Schwarz Weiß“ erinnert: Der Nährboden, auf den dieses Buch fällt. Es geht um das Aufzeigen einer bitteren Realität, um Ware für das „aufgeklärte“ Bildungsbürgertum – das sich mit dem Konsum derartiger Produkte das Gewissen rein zu waschen versucht. Und entnervt aufstößt, wenn es befürchtet, dass mit solchen Werken die Sektstimmung empfindlich gestört wird.

22 Kommentare zu „Critical Whiteness und das Ende der Sektstimmung

  1. wenn sich jemand durch einen text unter generalverdacht gestellt fühlt, dann ist das erstmal so. unabhängig davon ob die person das so gemeint hat oder nicht. da es vermutlich 95% der leser*_innen dieses buches so ähnlich geht, kann ich verstehen, dass kadda zu diesem schluß kommt und einen bildungsauftrag entsprechen verfehlt ansieht. denn eine person vor den kopf zu stoßen ist zumidnest im sinne der bildung kein geeignetes mittel.

    sehr wohl sehe ich so manche probleme mit diesem beitrag. zumindest fühle ich mich damit ebenso alles andere als wohl. :/

    das boxi

  2. Vielen Dank für die neue Sichtweise bzgl. Bourdieu, „Bildungsbürgergefühle“ und Gewissenreinwaschen! Sowas gibt mir im Alltag doch mal ziemlichen Auftrieb, denn ich kann mich ja manchmal nicht genug darüber wundern, wer Frau Rönickes Ausssagen sofort unterschreiben würde.

  3. @boxi: Ich frage mich, warum davon ausgegangen wird, dass Noah Sow mit ihrem Buch einen formalen Bildungsauftrag erfüllen müsse? Wie Nadia bereits schrieb, ist „Deutschland Schwarz Weiss“ kein Buch zu Rassismustheorie, sondern ein Buch über Sows persönliche Erfahrungen und Erfahrungen anderer PoC mit (Alltags-)Rassismus in Deutschland – dabei geht es auch darum, dass Rassismus eine Diskriminierungsstruktur ist, die eine Gesellschaft durchzieht, und nicht, wie oft geglaubt, das Randproblem vermeintlich irrationaler Rechtsradikaler. Noah Sow hat auch immer wieder darauf hingewiesen, dass „weiße Privilegien“ nicht gleichbedeutend sind damit, dass Menschen, die davon profitieren, keine anderen Probleme mehr hätten und jede_r vollkommen diskriminierungsfrei durch’s Leben segeln würde. Was Menschen mit weißen Privilegien aber jene verschafft, ist systematischer Rassismus – in Sows Buch wird das anhand ihrer und anderer ganzer Lebenserfahrungen und, wie Nadia schrieb, ausführlicher Empirie dargestellt.

    Ich persönlich finde, dass wen das derartig vor den Kopf stößt, dass solche Rezensionen geschrieben und dann bejaht werden, sich vielleicht noch nicht sonderlich mit Rassismus (und Antisemitismus) in Deutschland auseinandersetzen musste. Diese Lücke aufzuholen ist aber nicht Noah Sows Aufgabe. Deshalb finde ich es doppelt furchtbar, einer Schwarzen Autorin in Deutschland zu sagen, sie mache antirassistischen Aktivismus falsch, und die Schilderung ihres diskriminierenden Alltags, der zugleich Privilegien für andere bedeutet, wäre zu unfreundlich, um zur Eigenreflektion angeregt zu werden Letztlich sind wir hier nämlich wieder beim „Ton-Argument“: alle reden nur noch über vermeintlich verfehlte Bildungsaufträge und wie schlecht man sich behandelt fühle, obwohl man es doch gut meine, und das eigentliche Thema, rassistische Diskriminierung, bleibt unter „ferner liefen.“

  4. Hallo Frau Shehadeh,

    dieser Reflex (Ich, ein Rassist?! Das kann gar nicht sein!), dem Frau Rönicke in ihrer Kolumne Ausdruck verleiht, wird helfen, den Bereich zu kartografieren, der „Betroffenen“ wie ihr selbst so unzugänglich ist. Denn neben Pädagogen sind es auch Polizisten, Juristen und Angestellte in Behörden, deren Selbstverständnis immer wieder mal „erschüttert“ werden kann, wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden (wie hätte Frau Rönicke reagiert, wenn ihr Frau Sow im Alltag als Mutter oder Ehefrau beim Elternabend begegnet wäre? Oder als Antragstellerin bei einer Behörde wie dem Jugendamt oder dem Sozialamt? Oder als Patientin gegenüber einer Therapeutin? Und würde sie anders reagieren, wenn die Kritik von einer Autorin wie Zadie Smith kommen würde?)

    Ihr Text zum Ende der Sektstimmung gehört damit zu dem Besten und Wichtigsten, das ich in der letzten Zeit gelesen habe! Vielen Dank.

    Beste Grüße,
    Francis Keller

  5. Ich glaube, dass hier ein Unterschied zum Normalfall des Ton-Arguments besteht und dass die Kritik von Katrin Rönicke darum nicht ganz so schnell vom Tisch gefegt werden sollte.

    Die Ablehnung des Ton-Arguments hat gute Gründe im unmittelbaren persönlichen Kontakt: A sagt etwas zu B, was B verletzt. B weist auf die Verletzung hin. A kritisiert B’s Tonfall statt auf die Verletzungserfahrung einzugehen.

    Ähnlich würde ich auch noch eine Schilderung auf einem persönlichen Blog oder in sonst einer mehr oder weniger privaten oder zumindest nur semiöffentlichen Kommunikationssphäre beurteilen. Von mir aus sogar noch eine Autobiographie o.ä.

    „Deutschland Schwarz-Weiß“ ist aber ein Buch, das sich gezielt an ein weißes deutsches Publikum wendet und einen aufklärerischen Anspruch erhebt. Die Textpassage, auf die sich Katrin Rönicke bezieht, ist in der persönlichen Anredeform gerade für Angehörige eines solchen Publikums gehalten. Das ist keine Autobiographie, sondern der Form nach ganz klar ein Werk mit pädagogischem Ziel. Es ist aus meiner Sicht völlig legitim, sich dann darüber zu unterhalten, ob das Buch geeignete stilistische Mittel wählt, um dieses Ziel zu erreichen. Und ich halte es auch überhaupt nicht für anmaßend, wenn gerade auch Angehörige das angesprochenen Personenkreises sich an dieser Unterhaltung beteiligen. Mit Verlaub, wer soll denn sonst beurteilen, ob das pädagogische Konzept aufgeht oder nicht?

  6. @accalmie: Du hast natürlich recht, dass es an der Sache vorbei geht, sich nur noch mit dem Tonfall eines Arguments auseinander zu setzen. Aber offenbar ist der Doppelcharakter von Sows Buch für viele (mich zum Beispiel) verwirrend: ist es nun ein persönliches Buch oder ist es ein Buch, das CW als Theorie vertritt oder sogar ein Stück weit repräsentiert?

    Das Buch ist NICHT repräsentativ für CW. Sonst fände ich CW einfach doof. tue ich aber nicht. jedenfalls nicht total. Direkt im Bezug auf das Buch:

    Niemand ist dazu verpflichtet Polemik als solche zu kennzeichnen, man geht davon aus, dass sie erkannt wird. Ist hier aber nicht so. Zweifellos verlässt Sow ja in ihrem Buch die wissenschaftliche und theoretische Ebene und polemisiert in ihrem Buch. Und Polemik darf man ja durchaus auch persönlich nehmen. Sie ist ja auch so gemeint.

    z.B. benutzt Sow viel Strohmann-Rhetorik, legt fiktiven Lesenden Rassismen in den Mund, die diese schon vor Jahren mit Abscheu abgestoßen haben. Das tut weh, das ist doch verständlich. Und ist gar nicht witzig und lächerlich. Keine meiner weißen Freund_innen hat jemals so einen Scheiß von sich gegeben, wie die Beispiele in dem Buch!

    Wichtig: ja, es lohnt sich, die eigenen Rassismen immer wieder kritisch zu benennen und sich zu verändern. Jede_r findet sicherlich noch die ein oder andere „Rassismus-Sünde“, egal, wie engagiert die Person vorher war oder ist. Aber dies ist nicht in dem Maße zwingend von der eigene Hautfarbe abhängig, wie es in dem Buch von Sow dargestellt wird.

    Und vorallem: Wenn die letzten, kleinen noch verbliebenen, frisch aufgedeckten rassistischen Muster, die man an sich entdeckt, der endgültige Beweis für die eigene Whiteness und Verdorbenheit sind, denn das ist Sows rhetorische Beweisführung, dann sind wir wohl alle weiße Rassist_innen. Ich auch, als fremddefinierte PoC wohlgemerkt.

    Der rhetorische Dreh in dem Buch ist die Gleichsetzung aller Formen von Rassismus: beispielsweise die Gleichsetzung der Verwendung von „Fremdenfeindlichkeit“ als Terminus mit „Gedankengut der NPD“. Kann man vielleicht so sehen, ist aber auch eindeutig eine polemische Übertreibung. Die Schlussfolgerungen des Buches werden aber tragischerweise aus solchen polemischen Beweisen für die Unreflektiertheit aller Weißen gezogen. Nochmal im Klartext: Kritik an dem Terminus ist völlig berechtigt. Daraus aber zu schlussfolgern, dass weiße grundsätzlich nicht in der Lage sind Rassismus zu verstehen: hm, geht so.

    Weiße Privilegien werden hier zu einem Paket stilisiert, das jeder weiße Mensch zur Geburt geschnürt bekommt und voll auskosten kann. Das ist aus intersektioneller Sicht schlicht und ergreifend falsch. Da hilft auch kein Lippenbekenntnis, dass Weiße auch Probleme haben. Weiße sind eben nicht gleich Weiße. Genauso, wie Männer gleichzeitig Opfer und Täter in patriarchalen Hegemonien sein können, können es Weiße in rassistischen Hegemonien sein. Das war irgendwann mal als Erkenntnis klar, geht jetzt aber irgendwie verloren.

    Außer Acht gelassen werden in dem Buch auch Reproduktionsprozesse durch Benachteiligte. Rassismus ist DU LIEBE GÜTE kein Problem von nur Weißen! Wer sowas denkt ist naiv! Meine komplette PoC-Familie ist ein rassistischer Haufen wie nur was (und ich hab sie trotzdem lieb)!!!

  7. Liebe Leute,
    ich bin langsam echt verzweifelt über die Debatte, ob „Weiße“ antirassistisch sein können. Die Diskutierenden sind sich in der Regel einig darüber, dass „Weiße“ von rassistischen Strukturen profitieren. Bei der Frage, ob sie trotzdem antirassistisch „sein“ können gibt es offensichtlich sehr verschiedene BEDEUTUNGen des Adjektivs „antirassistisch“.
    Die eine Gruppe verwendet es als die Bezeichnung eines durch Identität determinierten strukturellen EFFEKT und die andere Gruppe bezeichnet damit eine gewählte politische EINSTELLUNG, die auch Teil ihrer politischen Identität ist. Die letztere Gruppe ist natürlich beleidigt und wütend, wenn sie das Gefühl hat, ihr wird ihre politische Einstellung abgesprochen. Das wird als bevormundend und erniedrigend erlebt.

    Ähnlich wie sich verschiedene Gruppen in den 1960er Jahren gegenseitig vorwarfen „nicht links“ zu sein und einfach unterschiedliche Definitionen durchsetzen wollten.
    So lange aber beide Seiten einfach ihre Definition durchsetzen wollen wird es keine Verständigung, keine Bewegung und keine gemeinsame Aktion geben.

    Das ist strategisch nicht sooo schön für eine sich insgesamt in der Defensive befindende antirassistische Bewegung. Die ist dann mit akademischen Debatten darüber beschäftigt, wer das Recht hat, sich „antirassitisch“ zu nennen und wer nicht. Und welche Theorie die tollste ist.
    Währenddessen ziehen jede Menge RassistInnen gewalttätig durch die Straßen. Und die sind auch in ihrer politischen Einstellung Rassisten. Und sie werden staatlich unterstützt. Nicht nur durch den Verfassungsschutz, sondern auch durch das polizeiliche racial Profiling, Einwanderungspolitik, Integrationsgipfel, den rassistischen Innenminister und so weiter und so fort.
    Aber ist o.k. Die Debatte dient halt vor allem der bürgerlich akademischen Schulung an Begrifflichkeiten. Viel Erfolg wünsche denn auch.

    Jacopo

    Migrant, Arbeiterklasse aber Weiß – wie passe ich da eigentlich rein?

  8. PS: Nur um das noch klar zu stellen. Was die Erkenntnis betrifft, dass Rassismus eine allgegenwärtige Alltagskultur ist, die tagtäglich reproduziert wird, und zwar auch von Leuten, deren gewählte Einstellung „Antirassistisch“ ist – da stimme ich völlig zu. Und ich finde diese Erkenntnis und die Selbstkritik in der Hinsicht auch wichtig.

    Hätte ich mich der Person gegenüber auch so verhalten, wenn sie (Weiß, PoC, Frau, Mann) wäre? Wäre das gleiche Verhalten dann angemessen? Sollten wir uns alle ständig fragen.

    Was ich in der CW Debatte vermisse ist eine alte soziologische Erkenntnis: Macht wird immer von den Privilegierten reproduziert – von den positiv Privilegierten sowieso, aber auch von den negativ Privilegierten.
    Warum ist das bei Gender so einsichtig und bei der Diskussion von Rassismus praktisch nicht thematisierbar? Irgendwie fühlt es sich falsch an, aber warum eigentlich? Weil die Rassifizierung weniger entrinnbar als die gender Zuschreibung? Weil die rassistische Unterdrückung weniger Incentives mit sich bringt als die Sexistische?
    Oder vielleicht weil es häufiger eine Überschneidung von Rassifizierung und Klassifizierung gibt?

  9. Liebe Alle,

    ich habe hier jetzt mal allen möglichen Kram freigeschaltet, und einen Haufen Wust an Themenmix und Diskussionsbedarf nun in der Kommentarspalte. Und erhitzte Gemüter.

    Interessant ist in Bezug auf Noah Sows Buch: Wie sehr der Rechtfertigungsbedarf eingefordert wird. Ich frage mich, ob das mittlerweie symptomatisch ist für Wissensproduktionen, die in der Gegen-Kultur zu verorten sind? Auch, wenn es sich dabei um eine Polemik handelt?

    Ich möchte noch einmal @accalmie zitieren:

    „… dabei geht es auch darum, dass Rassismus eine Diskriminierungsstruktur ist, die eine Gesellschaft durchzieht, und nicht, wie oft geglaubt, das Randproblem vermeintlich irrationaler Rechtsradikaler. Noah Sow hat auch immer wieder darauf hingewiesen, dass “weiße Privilegien” nicht gleichbedeutend sind damit, dass Menschen, die davon profitieren, keine anderen Probleme mehr hätten und jede_r vollkommen diskriminierungsfrei durch’s Leben segeln würde. Was Menschen mit weißen Privilegien aber jene verschafft, ist systematischer Rassismus – in Sows Buch wird das anhand ihrer und anderer ganzer Lebenserfahrungen (…) dargestellt.“

    @somri: „Weiße sind eben nicht gleich Weiße.“ Sagt ja auch keine_r. Das ändert aber nichts daran, dass wir rassistische Strukturen haben, die mal nicht gerade pling-pling weggebeamt werden können, wenn Leute der Meinung sind „Mir würde das ja nie passieren!“ Von daher ist mir auch der NPD-Vergleich wieder zu fernab, weil: Auch wenn Du und vielleicht ich den wirklich schmerzhaften Rassismus noch nicht erlebt haben, heißt das nicht, dass wir hier immer nur „diese Sonderfälle“ haben. Und ich gehe nicht mal von einer „bösen“ Intention aus, wenn Leute mit Rassismus nix zu tun haben wollen.

  10. @sorim und Maxine: ich hatte auf meinem Privatblog diese und letzte Woche schon eine längere Debatte zu genau diesem Thema (auf deutsch und Englisch); da nehme ich zu einigen Einwänden, die auch von Euch genannt werden, Stellung und würde mich hier nur rahmensprengend wiederholen, fürchte ich (kann man dort aber nachlesen). Ich möchte daher nur kurz Nadia zustimmen, dass weder Noah Sow noch Critical Whiteness Studies behaupten, alle weißen Menschen könne man grundsätzlich über einen Kamm scheren – das Prinzip der Multidimensionalität (oder Intersektionalität/Interdependenz) ist gerade bei Critical Whiteness Studies von zentraler Bedeutung; das wird aber in der Rezeption von Critical Whiteness offenbar vergessenund/ oder bewusst ignoriert, wenn an jenen Konzepten pauschalisierte Kritik geübt wird, und white privilege dabei als (ausschließlich oder primär) personifiziert dargestellt wird.

  11. @nadia: ich gehe davon aus, dass in meinem Beitrag klar wurde, dass ich die deutsche Gesellschaft für eine rassistisch strukturierte halte. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer irgendwelche Rassismen hier geleugnet hat oder „pling-pling wegbeamen“ wollte.

    Mein Punkt war vielmehr, dass ich es für inhaltlich und strategisch falsch halte, eine Gruppe aufzumachen, die „Weiße“ heißt, und ihnen zu sagen: Ihr seid die einzige Ursache für Rassismus, die zählt. Rassismus ist wesentlich komplexer in den Ursachen und definitiv komplexer in seiner Bekämpfung.

    Und: wer sagt denn, dass ich keinen schmerzhaften Rassismus erlebe? Ich begegne diesem Reflex so oft, dass meine Meinung auf fehlende Erfahrung zurückgeführt wird. Das Gegenteil ist der Fall.

    Der NPD-Vergleich stammt von Noah Sow. Aus dem Buch, über das da gesprochen wird. Was findest Du daran genau fernab? Ich finde den nämlich auch absurd, das ist wohl nicht so rüber gekommen.

    Ich habe nie von „Sonderfällen“ gesprochen. Wo hat man das rausgelesen? Rassismus wird jeden Tag erlitten. Ich habe doch deutlich gesagt: es ist wichtig, in der Selbstreflexion zu bleiben und sich zu verändern. Mein Punkt war: es handelt sich bei den Aufforderungen zur Selbstreflexion in Sows Buch um rhetorische Beweise für die Verdorbenheit der Lesenden. Und zwar mit dichotomen Kategorien; weiß-Täter und schwarz-Opfer. Das finde ich grob und inhaltlich falsch.

    @jacopo: so sehe ich das auch. Entspricht „Effekt“ in Deiner Argumentation also der Ungleichverteilung von Privilegien und „Einstellung“ der aktiven und inhaltlichen Positionierung? Denn die kann sich ja unterscheiden, da stimme ich Dir komplett zu. Und das wäre ein wichtiger Punkt: die Kritik an Weißen ist in dem Punkt oft so unscharf und richtet sich gegen Individuen, deren Privilegierung und Positionierung nicht voneinander unterschieden werden und aus der Hautfarbe ohne Berücksichtigung der intersektionellen Lage abgeleitet werden.

  12. Sorry, ich fühle mich missverstanden und sehe nicht, was die – mir bekannte – Diskussion auf dem Privatblog mit meinem Punkt zu tun hat. Ich sage was ganz anderes als sorim und äußere mich überhaupt nicht zu CW (als Analyse- oder Handlungskonzept), sondern zu der Frage, ob es von vornherein unredlich ist, dem Buch von Noah Sow das Tonargument entgegenzuhalten. Das nämlich ist ein Punkt in dem Posting hier in den Kommentaren gewesen. Ich lese das Buch (jedenfalls den Teil, um den es bei K. Rönicke geht) nicht als Polemik, sondern als Ansprache eines weißen deutschen Publikums mit pädagogischer Stoßrichtung. Nur in dieser Lesart finde ich die eingesetzten stilistischen Mittel (insb. die direkte Ansprache der Leser_innen) plausibel.

    Wenn ich das Buch so lese, drängt sich mir die Frage auf, ob diese Ansprache funktioniert oder nicht. Das kann ich als weiße deutsche Leserin ohne jede Anmaßung beurteilen, denn gerade Leute wie ich sollen angesprochen werden. Ich finde, diese Ansprache funktioniert ziemlich schlecht. Ich habe das Buch schon vielen Leuten empfohlen oder auch aufgedrängt. Ausnahmslos alle fühlten sich brüskiert. Viele hatten keine Lust weiterzulesen. Nicht wenige ließen sich zum Weiterlesen auch nicht mehr überreden.

    Im Rahmen einer zwischenmenschlichen Begegnung auf der Straße oder im Netz ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn jemand nach einer Kränkung, die der Gegenpart nicht einsehen will, sagt, ok, mit dem will ich auch nichts zu tun haben, und wenn der sich jetzt beleidigt fühlt, ist das sein Problem und nicht meins. Wenn ein pädagogisches Buch bei einem erheblichen Teil des Zielpublikums letztlich nichts erreicht, weil das Zielpublikum auf den angeschlagenen Ton keine Lust hat, dann ist das aus meiner Sicht durchaus ein Problem, mit dem die Autorin sich auseinandersetzen sollte, weil ihr pädagogisches Projekt gerade zu scheitern droht. Darauf kann ich als Mitglied des Zielpublikums sie ohne jede Anmaßung/Herabwürdigung/irgendwas hinweisen, denn sie als Autorin kann überhaupt nicht beurteilen, wie sie ankommt.

  13. @sorim: Dass Critical Whiteness einer Dichotomie-Diskussion bedarf, da bin ich d´accord, ich habe das ja auch im Text verlinkt: http://maedchenmannschaft.net/ladyfest-critical-whiteness-reload/

    Interessant ist nur, again, wie sehr die Abwehrreflexe funktionieren, wenn es um Noahs Buch geht, und for the record: Erscheinungsjahr ist 2007. Deswegen @Maxine: „Wenn ein pädagogisches Buch bei einem erheblichen Teil des Zielpublikums letztlich nichts erreicht, weil das Zielpublikum auf den angeschlagenen Ton keine Lust hat, dann ist das aus meiner Sicht durchaus ein Problem, mit dem die Autorin sich auseinandersetzen sollte, weil ihr pädagogisches Projekt gerade zu scheitern droht.“ Erschließt sich mir nicht. Gibt es denn Zahlen darüber, wie viele den Ton nicht verkraften? Das nämlich würde mich dann als Soziologin interessieren. Und selbst wenn: So what? Der Anspruch Noahs ist eben der, sich die Höflichkeitsaufklärung (Das kann man auch alles netter sagen!) zu sparen, und das das durchschlagend ist, zeigt sich darin, dass wir auch heute noch /zum Glück) über dieses Buch sprechen.

    Vielmehr finde ich es befremdlich, oder auch: bezeichnend, wie viele sich Sorgen machen, dass eine bewusst provokant gehaltene Polemik, die auf Rassismus aufmerksam macht, die angesprochenen Privilegienträger_innen vielleicht nerven (oder: verletzen! (sic)) könnte.

  14. @accalmie: wow. da ist ja was los. hm, tut mir leid, da musstest du mit viel Blödsinn dealen. Nach der noch flüchtigen Sicht der Argumente in und unter Deinem Post, komme ich zu dem Schluss, dass ich kaum Menschen kenne, die sich auf einem historisch fundiertem Level über CWS unterhalten. Ich bin von Deinem Erdrutsch an Theorie (das ist ein Kompliment) aber beruhigt, bestimmt finde ich in und rund um Deinen Post noch coole Inputs.

    Leider werden (auch von Noah Sow, sie ist rhetorisch eben provokant und oft grenzverletzend) im Namen von CW ziemlich krude Dinge gesagt. Kann es sein, dass eben nicht alle, die sich von Polemiken im Namen von CW angegriffen fühlen, ihren versteckten Rassismus behalten wollen. Sondern dass im Namen von CW eben auch ziemlich okaye Leute als Rassisten ohne Wiederkehr beschimpft wurden?

    Ich finde die Diskussion ebenso ermüdend wie Du. Der AK Artikel hat sicher seine Schwächen, aber auch gute Argumente. Ich halte nichts davon, diese Diskussion weiter zu polarisieren. Ich halte auch nichts davon, Leute in Schutz zu nehmen, die sich wie rhetorische Trampeltiere aufführen und zwar mit einer fiktiven CWS-Crew im Rücken. Das tust Du sicher auch nicht. Ich will mich auch nicht mit Leuten solidarisieren, die sich hinter „reversed racism“-Ausreden verstecken. Aber da landet man mit Polemiken. Das ist doch keine Überraschung.

    Ein hauptsächlicher Stein des Anstoßes ist tatsächlich das „Über einen Kamm scheren“, das von vielen Seiten praktiziert wird. Ich werde mal nach CWS Quellen suchen, die ich nicht offensive finde. Danke für die Quellen. Und ich hab den Fehler ja auch gemacht: aber ich möchte nicht Teil einer zynischen Diskussion sein. Aber nur weil es Mansplaining und white whining gibt, möchte ich nicht einfach diesen Sack aufmachen und im Eifer des Gefechts auch die ungeschickt formulierten, aber vielleicht berechtigten Meinungen da rein schaufeln (aber mein Mitgefühl, Du hast garantiert eine Menge Moderationshorror in Deinem Blog gehabt mit ernsthaft beschissenen Kommentaren).

    Ich freue mich auf die Zeit, wenn CWS in der Rezeption und Praxis ähnlich inklusiv wie Gender Studies angewendet werden. Bis das so ist, kann ich mich aber nicht ohne Widerstand von Leuten belehren lassen, die „witzige“ Grafiken über Weiße machen. Den wichtigen, realen Unterschied zwischen „Männern“ und „Mackern“ würde ich gern auch in diesem Diskurs wiederfinden.

  15. @sorim: danke. Das Problem liegt hier auf zwei Ebenen, finde ich:

    1. Den „Moderationshorror“, den Du ganz richtig beschreibst ;), haben PoC (und ich möchte hier nochmal sagen, dass niemand dazu gezwungen wird, sich selbst als PoC zu bezeichnen – PoC entstand als Solidaritätsbegriff gegenüber rassistischer Hierarchisierung von Hautfarben und Herkünften, etc., und beruht auf der Gemeinsamkeit, systematisch von Rassismus betroffen zu sein, aber, wie Nadia schrieb, muss man hier auch Differenzierungen zulassen, und in deutschland ist antisemitische Diskriminierung und Gewalt ebenso zentral) ja vor allem „im richtigen Leben.“ Das sind nur die „netteren“ Kommentare, die PoC live gesagt bekommen, die ich da durchgelassen habe. Allein dieses Faktum sollte vielleicht manche pauschalisierenden CWS-Kritiker_innen aufhorchen lassen: der Applaus für undifferenziertes CWS-Bashing kommt hier nämlich vor allem von denjenigen, die sonst kritisch über ihre eigene Position reflektieren müssten. Es bleibt aber natürlich einfacher, Rassismus ausschließlich „diesen Nazis da“ zuzuschaufeln, und sich selbst über jeden Zweifel erhaben zu erklären. Der Generalverdacht, dem Katrin Rönicke und andere sich hier literarisch ausgesetzt sehen, ist z.B. durch legales racial profiling für PoC schlicht tägliche Realität (vgl. den Post von Stephanie auf Takeover Beta dazu), die man nicht abschütteln kann, indem man das Buch zur Seite legt.

    Es entbehrt hier also nicht gewisser Ironie, dass wir letztlich ganz nah an das „reverse racism“ (und sei es nur rhetorisch) rankommen in dieser Debatte (und grundsätzlich ausgeblendet wird, dass Intersektionalität, oft insbesondere der Aspekt von Klasse, zentral ist für CWS – weil das auf dem „No Border Camp“ aber offenbar ignoriert wurde von manchen – ich kenne aber auch nur die Berichte… -, ignorieren Kritiker_innen das jetzt an kompletten CWS-Konzepten). Und hier liegt das Problem in der durchschnittlichen, sehr einseitigen Rezeption von CWS – Kritiken werden so formuliert und gelesen, dass man ganze Konzepte über Bord werfen kann und so weiter machen wie bisher. Deine Kommentare, obwohl Du das natürlich differenzierst, werden auf Twitter z.B. schon offiziell gelesen als die „Zerlegung“ von Nadias Artikel durch eine_n PoC von dort twitternden weißen Menschen – offenbar sind viele nicht in der Lage, trotz der Ablehnung von „über einen Kamm geschert werden“ dieselbe Maxime anderen zuzugestehen, wenn es um CWS geht. Hier gibt es auf einmal nur noch ein Konzept, hier wird Noah Sow zum allgemeinen Feindbild für friedliches Zusammenleben stilisiert (wie Nadia schon schrieb: die Rezension hier kommt spät, das Buch ist fünf Jahre alt und wurde rauf- und runterbesprochen – für das Buch spricht aber offenbar allein der Fakt, dass es Leute nicht loslässt; und ich finde es, mal so am Rande gesagt, ziemlich absurd, dass wir uns jetzt, mich eingeschlossen, in ihrer Abwesenheit über Noah Sows vermeintliche Intentionen und Didaktikfähigkeiten unterhalten…), hier hat diese „Berliner PoC-Szene“ [sic] (so generell gesagt und an und für sich, näch…) auf einmal totalitäre Diskurshoheit, und mit Hilfe des AK-Artikels „Decolorise it!“ darf man jetzt auch bewusst weiße Privilegien als Hirngespinst abtun, wenn man sich mit einem „Rassismusvorwurf“ konfrontiert sieht. Die oft geforderte Differenzierung bei CWS gegenüber weißen Menschen, die dort ja auch genau so stattfindet mithilfe von Intersektionalitätsansätzen und auch in der jetzigen Debatte, wird hier nämlich leider nur einer (künstlichen) Seite zugestanden.

    2. Es ist natürlich keine Überraschung, wenn Leute sich hinter „reversed racism“-Ausreden verstecken, wie Du schreibst. Das ist aber beleibe nicht eine exklusive Reaktion auf Polemiken – Freundlichsein hilft offenbar genauso wenig, rassistische Strukturen zu bekämpfen und Leute zur Selbstreflektion anzuregen. Es ist ja kein Zufall, dass Noah Sows Buch eines der bekannteren ist zum Thema. Das gilt übrigens auch nicht nur für Antirassismus, sondern für mehr oder minder jede Art von Gesellschaftskritik: die Arbeiter_innenbewegung war nicht sehr freundlich; die Frauen*bewegung war auch nicht nett, und Martin Luther King, Jr. steht auch nicht als einziger für die Strategien des US-amerikanischen Civil Rights Movement (und war so oder so auch deutlich radikaler als dargestellt) – ohne Druckausübung kommt oft relativ wenig zustande, weil sich offenbar sonst niemand angegriffen und somit nicht angesprochen fühlt. Natürlich muss man hier zwischen Druck auf Institutionen und individuelle Personen differenzieren – diese sind aber auch nicht unabhängig voneinander konstituiert. Und solange davon ausgegangen wird, dass man selbst immer noch finde, kein_e Rassist_in zu sein (und hier kommt ja oft dann zum Tragen, dass CWS angeblich „Alltagsrassismus“ mit NSU-Terrorismus gleichsetzen würde, das ist aber auch ein ganz schönes Märchen…) und sich außerhalb rassistischer Strukturen verortet, die man meint, damit zu bekämpfen, drehen wir uns tatsächlich so im Kreis wie CWS das vorgeworfen wird, und implizieren, dass Rechtsradikalismus vom Himmel fällt. Wie Nadia schrieb, geht es hier oft um bildungsbürgerliche Gewissen, und viele der Leute, die sich jetzt der CWS erwehren, sind mit Sicherheit auf Anti-Nazi-Demos wiederzufinden. Das finde ich auch ganz unironisch großartig; trotzdem sind das dann oft einfach nur die Anlässe, sich als unrassistisches deutsches Bildungsbürger_innenkollektiv zu stilisieren, das gegen „den Rand“ vorgeht, während alles andere doch funktioniere in diesem Land bzw. nur randständige Erfahrungen von kleinen Minderheiten seien (da geben sich gelegentlich auch CWS-Feindlichkeit und sekundärer Antisemitismus die Klinke in die Hand). Hier finde ich CWS auch in einem deutschen Kontext sinnvoll, um als gegeben verstandene Selbstverständnisse zumindest hinterfragen zu können, und auch, um deutlich zu machen, dass „wegen der Herkunft diskriminiert werden“ nicht gleichbedeutend ist mit systematischem Rassismus (da sind wir uns ja aber auch einig).

    Und das Absurde an der ganzen Sache ist: ich seh mich, wie Nadia, noch nicht mal als großer CWS-Fan. Ich finde CWS wichtig und hilfreich als zusätzliches Werkzeug in antirassistischer Arbeit. Wodurch ich aber zu ellenlangen Verteidigungen von CWS komme, ist, dass hier Erfahrungsberichte vom „No Border Camp“ und Rönickes Rezension von vielen benutzt werden, um alte Themen zu verjüngen, die ja noch nicht einmal mit der stärkeren Anwendung von CWS erst zum Vorschein kamen: nämlich, dass manche Leute jetzt wieder glauben können, dass sich selbst Anti-Rassist_in zu nennen eine_n schon zu einer_m solche_n macht (ganz egal, welche Argumentations- oder Verhaltensweisen man an den Tag legt), und kritische Nachfragen als Blasphemie stilisiert werden und, ähnlich wie bei der Idee des universellen feministischen „Männerhasses“ (!!1!), jetzt CWS-begeisterte PoC sich jetzt des „Weißenhasses“ (!!1!) schuldig machten. Abgesehen von der Fantasie, die hier hineinspielt, werden hier auch konkrete Machtgefälle einfach mal außen vor gelassen und gesellschaftliche/Sprachpositionen können geflissentlich ignoriert werden (vgl. zu dieser Art von „Liberalismus“ momorulez‘ Artikel und Alexander Weheliyes Kommentar dort).

    Mithilfe dieser Debatte über die CWS, die gerade auch unter PoC deutlich differenzierter geführt wird als dargestellt, meinen viele Menschen mit weißen Privilegien sich jetzt endlich wieder von jeglichem Zweifel befreien und „Rassismusvorwürfe“ als totalitäres Sektengehabe abtun zu können (das jetzt im übrigen auch die Mädchenmannschaft fest in seinen Klauen hält, wie ich gelesen habe… :D) mit dem Verweis auf ebene jene (viel differenziertere als dargestellt) Debatten zu CWS. Das ist es, was meiner Meinung nach Antirassismus in deutschland einen Bärendienst erweist, und das ist es, was zu sich im Kreis drehen führt.

  16. „Ich finde CWS wichtig und hilfreich als zusätzliches Werkzeug in antirassistischer Arbeit.“

    Word!

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