Acht Prozent

[Inhaltshinweis: Rape Culture]

…entspricht der Zahl derjenigen, die nach einer Anzeige wegen Vergewaltigung auch tatsächlich verurteilt wurden im Jahr 2012. Wie Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut in einem tagesschau-Interview berichtete, sei es vor 20 Jahren noch in knapp 22 Prozent der zur Anzeige gebrachten Vergewaltigungsfälle zu einer Verurteilung  gekommen. Mit anderen Worten: Im Jahr 2012 gab es bei 92 Prozent aller angezeigten sexuellen Übergriffe keine rechtlichen Konsequenzen für den oder die potentiellen Täter. Das muss also dieses „Opferabo“ sein, von dem Kachelmann und Fans sprachen.

Pfeiffer begründet diesen Umstand zum einen mit der „Überlastung von Polizei und Staatsanwaltschaft“, zum anderen mit der vermehrten Anzahl von Vergewaltigungen im familiären Umfeld, die schwieriger zu beweisen seien. Darüber hinaus spricht Pfeiffer von „gesteigerter Anzeigebereitschaft“ von Frauen, die sich – so Pfeiffer – „nichts mehr gefallen lassen“ würden. Die Ironie, dass die Basis für die Normalisierung einer Kultur, in der Vergewaltigung nur dann als Straftat gilt, wenn das Vergewaltigungsopfer einen ganzen Katalog an Voraussetzungen erfüllt, die sich mit dem zuerst einsetzenden Victim Blaming vereinbaren lassen (Fragen nach Kleidung, nach persönlichem Verhältnis, nach Ort, nach Alkohol-/Drogeneinnahme, nach Grad und Darstellung der Verweigerungshaltung, nach vermeintlich „zweideutigen“ Signalen, nach Grad der Gewaltanwendung, nach Ausformung der Abwehrmaßnahmen, nach persönlichem Ruf, nach gesellschaftlichem Status des Täters, nach Verhalten des Opfers nach der Tat, nach Kontostand, nach Partner_innengeschichte, etc., um eine Tat zu verharmlosen, zu entschuldigen und dem Opfer die oder einen Teil der Schuld zu geben), auch in diesem Interview aufrecht erhalten wurde, blieb Pfeiffer dabei leider verborgen.

Man weiß gar nicht, wo man beginnen soll – mit der Frage nach Prioritäten bei Polizei und Staatsanwaltschaft? Damit, dass sowohl Polizei als auch Staatswanwaltschaft Kompliz_innen sein oder selbst eine Gefahr darstellen können? Mit dem – von Pfeiffer zumindest erwähnten – Umstand, dass die Zahl von Vergewaltigungen im Bekannten- oder Familienkreis nicht gestiegen sein muss, sondern z.B. in der Ausformung von Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 überhaupt zum Straftatbestand wurde? Mit dem Fakt, dass genau die fiktive „Grauzone“ nicht vorhandenen Einverständnisses, die Vergewaltiger bewusst instrumentalisieren, indem sie die Tat zwar zugeben, aber von „Einvernehmlichkeit“ phantasieren und in ihrer kalkulierten Annahme gesellschaftlich unterstützt werden, dass ein „Nein“ (oder das Fehlen eines klar und freiwillig kommunizierten „Ja“) nicht genug ist, keine neue oder erstaunliche Erkenntnis, gar Entschuldigung ist für die niedrigen Verurteilungsraten?

Dass selbst gestiegene Anzeigebereitschaft in keinem Verhältnis zur Dunkelziffer steht – unter anderem veranschaulicht durch die Aktion „Ich habe nicht angezeigt“? Dass ohne Wimpernzucken zu skandieren, dass Frauen sich heute „nichts mehr gefallen lassen“ würden, der massen­wei­sen Miss­achtung des Grund­rechts auf kör­per­liche Selbst­be­stim­mung und Un­ver­sehrt­heit nicht nur wi­der­spricht, son­dern se­xu­elle Über­grif­fe als Privat­problem von Frauen, sich kör­per­lich zu wehren und_oder An­zei­ge zu er­stat­ten als Fra­ge des eigenen Selbst­bewusst­seins, des persönlichen Willens und der rei­nen Eigen­ver­ant­wor­tung tri­via­li­siert und indi­viduali­siert, und da­bei sowohl Täter_innen als auch kulturelle Nor­mier­ungen von (hetero­norma­tiv und ge­schlechts­essentia­list­isch prä­sentier­ter) Sex­uali­tät, Konsens/Ein­ver­nehm­lich­keit/Zu­stim­mung aussen vor lässt – wir also wieder beim Victim Blaming angekommen sind?

Sollte man damit beginnen, dass Pfeiffer zu Ende des Interviews einfach mal „zehn Prozent“ Falschbeschuldigungen in Vergewaltigungsfällen erfindet? Dass, um Vergewaltigungen zu verhindern, man Menschen beibringen muss, nicht zu vergewaltigen, statt eine opferbeschuldigende Kampagne nach der nächsten zu starten, die sich des slut shaming bedient? Dass 70 Prozent der Vergewaltigungsopfer den Täter_die Täterin kennen, und man somit das (latent rassistische) Narrativ des „Fremden“, nachts im Park hinter einem Baum hervorspringenden Vergewaltigers, der immer noch als einzig legitimes Täter-Abbild [PDF] zu fungieren scheint, dringend der Realität anpassen müsste?

Zuletzt stellte Pfeiffer noch fest, dass die „Erfolgschancen der Frauen von einem Bundesland zum anderen um das Sechsfache“ variierten, ebenso wie das „Risiko“ der Opferbeschuldigung von Frauen, deren Anzeige gescheitert sei. Pfeiffer erkennt durchaus an, dass dies „[f]ür einen Rechtsstaat“ problematische Befunde seien, weigert sich aber zugleich, preiszugeben, in welchen Bundesländern Anzeigen wegen Vergewaltigung die wenigsten Aussichten auf ein Verfahren haben, da er Opfer nicht entmutigen wolle. Entmutigend ist hier vor allem, wie wenig Kenntnis und Verständnis Pfeiffer für die grundlegenden, strukturellen Probleme eben dieses Rechtsstaats vorweist, in dem die Aussichten auf juristische Konsequenzen für Vergewaltiger unter anderem schlicht vom Wohnort und den dort zuständigen Beamt_innen abhängen und ein ehemaliger Generalstaatsanwalt öffentlich zugibt, dass er der eigenen Tochter, wenn sie vergewaltigt würde, von einer Strafanzeige abraten würde. Diese Bundesländer dann nicht zu benennen, zum vermeintlichen Wohle potentiell betroffener Frauen, ist eine Verhaltensweise, die paternalistischer nicht sein könnte.

Vor zwei Jahren hat Magda ein Nachhilfe-Dossier für Jörg Kachelmann zusammengestellt. Nicht nur Christian Pfeiffer darf gerne noch einmal hineingucken.

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